Bist du im Alltag manchmal gestresst? Schon mit kleinen Übungen kannst du Ruhe und Gelassenheit finden – davon ist Achtsamkeitslehrer Jürgen Kalweit überzeugt. Sequenzen von “aktivem Nichtstun” beruhigen Geist und Körper und fördern Konzentration und Effektivität.
Mit 16 Jahren hat sich Jürgen Kalweit zum ersten Mal mit dem Thema Achtsamkeit beschäftigt. Schon früh wurde er mit existentiellen Fragen und Problemen konfrontiert und hat deshalb damals einen mehrtägigen Schweigekurs besucht. “Zu erkennen, dass der Bauch ohne mein eigenes Zutun atmet, hat mir einen völlig neuen Bezug zu mir selbst gegeben. Das war für mich der Anfang in Sachen Achtsamkeitspraxis”, erinnert sich Jürgen Kalweit. Eine weitere Erfahrung war, “dass Probleme nicht durch Druck und Vehemenz zu lösen sind. Deshalb meditiere ich absichtslos, ohne ein Ziel erreichen zu wollen.”
Stress verursacht laut dem Achtsamkeitslehrer, dass das Hier und Jetzt nicht mehr wahrgenommen werden kann. Im beruflichen Alltag fehlen dem Gehirn dann Pausen, obwohl nur eine Aufmerksamkeitsspanne von rund 90 Minuten möglich ist. Das sorgt langfristig für gesundheitliche Probleme. Jürgen Kalweit vergleicht stressige Situationen mit einem Aquarium, dessen Sand im Wasser aufgewühlt ist. Um das Wasser wieder klar zu sehen, gebe es nur eine Methode: Warten.
“Dieses aktive Nichtstun kann man trainieren – so wie wir uns in unserem Leben schon viele Gewohnheiten antrainiert haben”, sagt Jürgen Kalweit. In der Stille können Menschen wahrnehmen, wie viel Unruhe in ihnen ist: kreisende Gedanken, belastende Emotionen, schmerzhafte Verspannungen. Insbesondere seit Beginn der Coronakrise führt er regelmäßig Angebote zum Thema Achtsamkeit am Arbeitsplatz durch. Ziel ist es, bei den vielen Videokonferenzen und langen Homeoffice-Tagen gedanklich immer wieder Abstand vom Bildschirm zu nehmen und Selbstfürsorge zu praktizieren. Bereits kleine Übungen können helfen, das Wasser etwas zu klären und den Tag achtsamer und stressfreier zu gestalten.
Übungen? Kostet das im stressigen Alltag nicht wieder Zeit? Jürgen Kalweit widerspricht: “Im Gegenteil. Man spart im Endeffekt sogar Zeit. Zwar muss man erstmal investieren, kommt dann aber am Ende schneller zum Ziel, weil man mit einem freien Kopf kreativer und konzentrierter arbeiten kann.” Manche Übungen kann man buchstäblich “im Vorbeigehen” absolvieren – Jürgen Kalweit stellt im folgenden drei Beispiele vor. Um sie erfolgreich und langfristig in den (beruflichen) Alltag zu integrieren, rät er dazu, einen Achtsamkeitskurs zu besuchen.
Ohne Smartphone in den Tag starten
Wenn der Tag beginnt, ist es für viele Menschen zur Selbstverständlichkeit geworden, zuerst auf ihr Smartphone zu schauen. “Sie sind dadurch sofort in der Außenwelt, obwohl sie noch im Bett liegen. Sie schauen sich ihre Todo-Listen an, checken E-Mails und Nachrichten oder den Kalender”, sagt Jürgen Kalweit. Er rät, das Smartphone erstmal außen vor zu lassen und nach dem Aufwachen bewusst zu registrieren, wie der Körper sich anfühlt. Die Hände auf den Bauch zu legen, sich selbst und seine Bedürfnisse wahrzunehmen und langsam aufzustehen – denn viele Rücken- und Gelenkprobleme entstehen tatsächlich durch das ruckartige Springen aus dem Bett.
Bewusstes Atmen fördert den Kontakt zu sich selbst
Wer von einem Meeting ins nächste eilen muss, kann sich selbst auf dem Weg verlieren. Alle anderthalb Stunden oder vor dem nächsten Termin zehn Mal bewusst durchzuatmen, kann den Druck rausnehmen und die Effektivität erhöhen. Wichtig ist, dabei in sich hinein zu spüren und Kontakt zu sich selbst herzustellen. In der Stille können Kopf und Körper auch schon einmal unangenehme Mitteilungen geben, dass es ihnen nicht so gut geht. “Dafür sollte man dankbar sein. So kann man reagieren, und wenn man sein Verhalten geändert hat, reagieren Kopf und Körper ebenfalls entspannter”, sagt Jürgen Kalweit. Ein Erinnerungsanker auf dem Schreibtisch hilft dabei, das Durchatmen nicht zu vergessen. Das kann zum Beispiel ein Bild sein, das an eine entspannte Situation erinnert.
Achtsames Gehen: Klarheit im Vorbeigehen
Eine Übung, die im Büroalltag besonders praktisch ist, weil sie kaum auffällt, ist das achtsame Gehen. Wer die Gegenwart bewusst wahrnimmt, steckt nicht länger im Hamsterrad der Gedanken zwischen dem vorherigen und dem nächsten Termin fest. Man beschäftigt sich entweder mit dem vorigen Termin, oder mit dem nächsten. Jürgen Kalweit schlägt vor, beim nächsten Gang zum Büro der Kolleg*innen, in den Sitzungsraum oder zur Büroküche bewusst auf das Gehen zu achten. Wie es sich anfühlt, die Füße auf den Boden zu setzen, Schritt für Schritt, und dabei durchzuatmen. Wer diese Übung anwendet, kann dem Gedankenkarussell quasi “im Vorbeigehen” entkommen und frisch in die nächste Begegnung starten.
Zur Person
Seit mehr als 40 Jahren praktiziert der Essener Jürgen Kalweit Meditations- und Achtsamkeitsübungen. Als Trainer gibt er unter dem Motto “Entspannt und Kreativ” Seminare für Menschen, die Achtsamkeit praktizieren wollen. Bei der Paritätischen Akademie NRW bietet er den Kurs “Achtsamkeit im Arbeitsalltag” an. Zu seiner täglichen Praxis zählt, dass er jeden Morgen mit einer halbstündigen Meditation beginnt.
Artikelfoto: Jared Doyle
Kommentieren