Menschen mit Sehverlust profitieren wie alle anderen Teilnehmenden auch von neuem Wissen aus Weiterbildungen. Was braucht es, damit Lernen für alle funktioniert – vor, während und nach einem Seminar? Ein Überblick über Hilfsmittel und worauf Veranstalter und Teilnehmende achten können.
Individuelle Voraussetzungen erkennen
„Zunächst einmal ist es wichtig zu wissen, dass jeder Mensch mit Sehverlust anders sieht“, sagt Johannes Willenberg vom Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen (BSVW). Die Bandbreite reicht von geringem Kontrastsehen bis hin zur vollständigen Erblindung. Hilfsmittel wirken daher sehr individuell – was für die eine Person gut funktioniert, ist für eine andere unbrauchbar.
Weiterbildungseinrichtungen und Dozierende sind deshalb gut beraten, frühzeitig das Gespräch mit den Teilnehmenden zu suchen. Ein Seminar barrierefrei zu gestalten, ist allerdings keine Einbahnstraße. Denn auch Teilnehmende mit Sehverlust spielen eine aktive Rolle. „Menschen mit Sehverlust sind dafür verantwortlich, mit den Veranstaltern zu kommunizieren und ihre Bedarfe deutlich zu machen“, sagt Willenberg.
Vor dem Seminar: Zugänglichkeit beginnt online
Barreirefereiheit beginnt schon bei der Anmeldung und ist der erste Schritt für ein barrierefrei erlebtes Seminar.
Formulare sollten so gestaltet sein, dass sie mit Screenreadern lesbar und vollständig per Tastatur bedienbar sind. Bilder oder Grafiken sollten mit Alternativtexten versehen sein, um ihre Inhalte für Screenreader zugänglich zu machen.
Ein praktisches Hilfsmittel zur Überprüfung der eigenen Webseite ist der kostenlose Screenreader NVDA. Tipps zur digitalen Barrierefreiheit bieten auch die großen Betriebssystemanbieter:
Ein weiterer wichtiger Schritt: Für viele Teilnehmende ist es vorteilhaft, wenn sie das Seminar-Skript frühzeitig erhalten, idealerweise in einem barrierefreien Format. So können sie es mit der eigenen Technik (zum Beispiel Screenreader oder Braillezeile) vorab prüfen und für den Einsatz im Seminar anpassen.
Im Seminar: Digitale und analoge Unterstützung
In Online-Seminaren sind Breakout-Rooms laut BSVW unproblematisch. Wichtig ist jedoch, dass genutzte Plattformen mit Screenreadern kompatibel sind und keine visuellen Informationen exklusiv vermittelt werden.
Bei Präsenzseminaren ist der Einsatz von klassischen Methoden wie dem Schreiben auf Moderationskarten nicht für alle hilfreich. „Dozierende können bei Einzel- oder Kleingruppenarbeiten gezielt Unterstützung anbieten, wenn Teilnehmende dies wünschen“, rät Willenberg.
Hilfreich sind außerdem:
- Haptische und optische Hilfsmittel wie Lupen, Lesesteine oder elektronische Vergrößerungssysteme in Tablets oder Smartphones.
- Sprachausgabesysteme, mit denen sich Texte über Kopfhörer vorlesen lassen – darunter auch Lösungen wie Clearview Speech, bei denen eine Kamera Texte scannt und in Sprache umwandelt.
- Intelligente Brillen mit integrierten Kameras, die visuelle Informationen in gesprochene Sprache übersetzen.
Diese Hilfsmittel werden in der Regel von den Betroffenen selbst zum Seminar mitgebracht. Sie müssen also nicht von den Anbietern der Bildungsangebote vorgehalten werden. In jedem Fall ist es sinnvoll, wenn bereits vorab geklärt ist, welche Hilfsmittel die Teilnehmenden mit ins Seminar bringen, und dass die Dozierenden vom Anbieter entsprechend darüber informiert sind.
Braillezeile und Screenreader – Technik für mehr Selbstständigkeit
Menschen, die Brailleschrift lesen, können mit Braillezeilen an Laptops oder Tablets barrierefrei mitarbeiten. Texte werden dabei Zeile für Zeile in tastbare Punkte umgewandelt. Dokumente, PDF-Dateien oder Präsentationen lassen sich mithilfe spezieller Software in Brailleschrift übertragen.
Auch Screenreader wie NVDA oder JAWS ermöglichen den Zugang zu digitalen Inhalten. Sie lesen Bildschirminhalte vor und bieten damit eine verlässliche Orientierung, vor allem bei gut strukturierten und barrierefrei formatierten Dokumenten.
Um Menschen mit Sehverlust den Zugang zu Bildungsangeboten zu erleichtern, können folgende Maßnahmen hilfreich sein:
- Frühzeitige Kommunikation mit den Teilnehmenden über individuelle Bedarfe: So können die Bildungsanbieter dafür sorgen, dass das Angebot kompatibel zu den Hilfsmitteln ist und zu den Bedarfen der Teilnehmenden passt
- Vorab-Versand des Skripts in barrierefreiem Format
- Barrierefreie Gestaltung von Unterlagen und Online-Plattformen
- Technische Unterstützung durch Screenreader oder Braillezeilen ermöglichen
- Assistenz für Seminare einplanen – diese kann in vielen Fällen finanziell gefördert werden
Im Alltag von Seminaren gibt es noch viele weitere Ansatzpunkte, um Teilhabe zu ermöglichen: akustische Signale im Raum, ein klares, kontrastreiches Raumdesign, individuelle Pausenregelungen oder auch die Möglichkeit, Seminarinhalte nachträglich als barrierefreie Audiodatei bereitzustellen.
Barrierefreiheit beginnt vor dem Seminar und hört danach nicht auf. Mit der richtigen Haltung, klarer Kommunikation und dem passenden technischen Know-how lassen sich Seminare inklusiv gestalten – für alle Beteiligten ein Gewinn.
Mehr Praxistipps zur inklusiven Weiterbildung
Wie können inklusive Weiterbildungsveranstaltungen realisiert werden? Diese Frage stand im Zentrum des Projektes “Gelingensfaktoren für eine inklusive Weiterbildung für Menschen mit und ohne Sehbeeinträchtigungen”. Im Rahmen des Projekts sind die Praxistipps zur inklusiven Weiterbildung für Menschen mit und ohne Sehverlust“ entstanden, über die ihr hier mehr erfahren könnt.
Die Paritätische Akademie NRW führte das Projekt im Jahr 2024 in Kooperation mit dem Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen e.V. (BSVW) durch. Es wurde gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW im Rahmen des Innovationsfonds für Weiterbildung 2024.
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