Selbsthilfeakademie NRWMarion Hölterhoff ist seit ihrer Kindheit schwerhörig. Ein Cochlea-Implantat und eine Reha haben ihr geholfen, wieder zu hören. 2014 hat die Lehrerin die Selbsthilfegruppe Hörschnecken in Hagen gegründet, um sich austauschen zu können.
Frau Hölterhoff, was hat bei Ihnen zur Schwerhörigkeit geführt?
Ich bin mit sieben Jahren auf der rechten Seite ertaubt. Ich hatte damals Masern und Mumps. Welche Krankheit an der Schwerhörigkeit schuld war, war nicht mehr festzustellen. Ich habe gemerkt, dass ich auf der rechten Seite nichts mehr hören konnte. Dann ging die Odyssee zu Arztpraxen und Kliniken los. Mir wurde gesagt, das Innenohr wäre “zerfressen” vom Virus und es sei nichts mehr zu machen.
War das nicht schockierend für Sie?
Nein, erstmal nicht. Speziell für meine Mutter war es aber mehr als schockierend. Ich selbst fand es eigentlich spannend. Das war gegenüber den anderen Kindern etwas Besonderes und hat mich damals nicht belastet, auf der linken Seite konnte ich ja noch zu 100 Prozent hören. Entgegen aller Prognosen habe ich sogar in einem Kinderchor gesungen und im Orchester gespielt. In der Kindheit war es also okay. Probleme hatte ich erst im Studium, als ich bei Vorlesungen nicht mehr alles mitbekommen habe. Trotzdem wurde es erst bedrohlich, als mit Mitte 30 auch das linke Ohr taub zu werden drohte.
Welche Probleme hatten oder haben Sie konkret im Alltag?
Ich konnte bis vor kurzem nicht räumlich hören. Bis dahin wusste ich nicht einmal, was das bedeutet. Es gibt eine Anekdote, dass mein damaliger Freund mir einen Song vorgespielt hat und meinte, “hörst du nicht, wie schön der Ton von links nach rechts geht?” – gehört habe ich das natürlich nicht. Ich konnte nicht orten, woher ein Klang kommt. Am Tisch musste ich so sitzen, dass ich mit meinem linken Ohr allen zuhören konnte. Außerdem fiel es mir immer schwer, in Gruppen von Menschen gut zuhören zu können. Das hat sich jetzt zum Glück geändert.
Wie haben Sie es geschafft, mit der Schwerhörigkeit besser umgehen zu können?
Einen starken erhellenden Moment hatte ich mit 40 Jahren, als ich das erste Hörgerät bekommen habe. Das war eine unendliche Erleichterung, weil ich dadurch mehr und entspannter hören konnte. Trotzdem blieb die Angst, komplett zu ertauben – für einen kommunikativen Menschen wie mich ist das ein Albtraum. 2008 habe ich das erste Mal davon gehört, dass ein Cochlea-Implantat für mich in Frage kommen könnte. Bei einer Hör-Reha, die ich jedem Menschen mit Hörproblemen nur empfehlen kann, habe ich Betroffene kennengelernt, die ein Implantat hatten und mir sehr dazu geraten haben, es auszuprobieren. Ende 2012 war es dann soweit und ich wurde operiert.
Wie funktioniert das Cochlea-Implantat?
Das Cochlea-Implantat ist eine Hörprothese, die eingesetzt wird, wenn das Innenohr kaputt ist. Voraussetzung ist, dass der Hörnerv noch funktioniert. Das kann man durch Messungen feststellen. Bei der Operation wird ein Elektrodenstrang in die Hörschnecke im Ohr eingeführt, die Cochlea heißt. Zusätzlich wird ein Implantat ins Knochenbett unter die Haut gelegt. Die Operation hat heute allerdings nur noch den Gefahrengrad einer schweren Zahn-Operation. Nach vier Wochen wird ein Sprachprozessor aufgesetzt, der die empfangenen elektrischen Impulse direkt auf den Hörnerv transportiert. Das Hörzentrum setzt diese Signale wieder in Sprache oder Geräusche um, man muss aber alles wieder lernen. Ich selbst konnte nach einem halben Jahr wieder alles verstehen.
Das müssen emotionale Momente gewesen sein.
Für mich persönlich war entgegen der Prognose schon vor der Operation klar, dass ich wieder Sprache verstehen will und konnte nur hoffen, dass das auch eintritt. Eine Woche nach der Erstanpassung habe ich das erste Wort verstanden. Das war für mich der absolut emotionalste Moment. Das Wort „fast“ war das erste. Mein Mann hat es gesagt. Eine Stunde später konnte ich mich mit ihm am Frühstückstisch unterhalten. An diesem Tag habe ich nur geheult (lacht). Genauso emotional war es, dass ich nach einer erneuten Reha im vergangenen Frühjahr wieder räumlich hören konnte.
Inwiefern hilft Ihnen die CIS-Selbsthilfegruppe Hörschnecken, die Sie gegründet haben?
Wir sind im Schnitt zwischen 15 und 20 Menschen an den Gruppenabenden. Es kommen auch immer wieder neue dazu. Die Menschen, die dort sind, brauchen vor allem die emotionale Hilfe. Das gilt natürlich auch für mich. Für alle ist der Austausch das Wichtigste. Um die Hilfe und Unterstützung, die ich durch die Reha bekommen habe, ein wenig zurückzugeben, engagiere ich mich nicht nur in meiner eigenen Selbsthilfegruppe, sondern auch im Landesverband, dem CIV NRW e.V. Diese ehrenamtliche Arbeit gibt mir sehr viel zurück und so hat sich mein „Handicap“ in eine Lebensaufgabe verwandelt.
Sprechen Sie dort auch über technische Dinge?
Ja. In unterschiedlichen Abständen laden wir die Hersteller der Geräte zu uns ein, um über ihre Technik und Neuigkeiten zu berichten – wie zum Beispiel neues Zubehör, neue Sprachprozessoren oder Sprachtrainings. Das ist natürlich sehr interessant für die Gruppe.
Was ist denn eigentlich der Unterschied zwischen Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit?
Bei der Schwerhörigkeit wird das Gehör schlechter. Bei einer Mittelohrschwerhörigkeit kann ein Hörgerät helfen, indem es den Schall verstärkt. Eine Innenohrschwerhörigkeit führt in der Regel irgendwann zum Ertauben. Menschen mit diesem Problem kann ein Cochlea-Implantat helfen. Gehörlos hingegen sind Menschen, die von Geburt an taub sind, die noch nie in ihrem Leben hören konnten. Sie sprechen ihre eigene Sprache, die Gebärdensprache. Für solche Erwachsenen ist ein Cochlea-Implantat keine Alternative. Das Gehirn könnte alle Geräusche, die auf einmal gehört werden, gar nicht verarbeiten. Im Kindesalter ist es aber möglich, dass Gehörlose die Geräusche durch das Implantat lernen können. Wenn das Gehirn einmal Sprache, Geräusche oder Musik abgespeichert hat, kann es sie immer wieder verstehen.
Lernen ist ein gutes Stichwort – Sie arbeiten als Lehrerin.
Genau, an einer ganz normalen Gesamtschule. Im Referendariat habe ich gemerkt, dass ich Schüler*innen aus der letzten Reihe schon mal nicht so gut verstehe. Heute funktioniert es gut.
Wie beeinflusst Schwerhörigkeit die Arbeit in der Schule, bei Seminaren oder bei Workshops?
Die Technik hilft in solchen Situationen enorm. Wenn ich zum Beispiel einen Vortrag höre, gebe ich dem- oder derjenigen meine FM-Übertragungsanlage. Damit verstehe ich alles, egal wo ich sitze. Das hilft sogar in Kleingruppen, wenn ich die Anlage in die Mitte lege. In der Schule bekommen zwei Schüler*innen ein Mikrofon, das aussieht wie ein Handy. Die Anlage sorgt sogar dafür, dass die Klassen ruhiger werden.
Was kann man allgemein tun, um die Situation bei Veranstaltungen für Menschen mit Schwerhörigkeit zu verbessern?
Da sind natürlich die Veranstalter*innen gefragt. Es gibt eine EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit. Für Hörgeschädigte wird sie aber selten umgesetzt. Dabei ist es ein relativ kleiner Akt. Kommunen zum Beispiel sind verpflichtet, öffentliche Räume wie Theater oder Konzertsäle für Hörgeschädigte so auszustatten, dass sie kommunizieren können. Das geht zum Beispiel mit einer Ringschleifenanlage, die nicht mal teuer ist. Träger*innen von Hörgeräten oder Implantaten können damit wunderbar verstehen, wenn in ihren Geräten die T-Spule aktiviert ist.
Und wie kann man hörgeschädigten Menschen im Alltag helfen?
Es kommt nicht darauf an, laut zu reden. Wichtiger ist es, langsam und deutlich zu sprechen und die Menschen anzuschauen, damit sie vom Mund ablesen können. Das ist besonders wichtig. Sonst kommt der Klang nicht an. Jedem Menschen mit Handicap kann ich nur raten, sich Unterstützung in einer Selbsthilfegruppe zu holen.
Selbsthilfeakademie NRW
Marion Hölterhoff ist Gründerin der Selbsthilfegruppe „Hörschnecken“ für Hörgeschädigte in Hagen und Umgebung und ehrenamtlich für den CIV NRW e.V. aktiv. Sie arbeitet eng mit der Selbsthilfeakademie NRW zusammen. Die Selbsthilfeakademie ist ein Kooperationsprojekt der Gesundheitsselbsthilfe NRW, der AOK Rheinland/Hamburg, der AOK NORDWEST, des Paritätischen NRW und der Paritätischen Akademie NRW. Sie unterstützt Selbsthilfe-Aktive mit Weiterbildungsangeboten und bietet Raum für Austausch und Vernetzung. Dazu veranstaltet die Selbsthilfeakademie NRW diverse Seminare und Workshops.
Artikelfoto: © Jan-Otto_iStockphoto
Kommentar
Meine Großmutter hat ebenfalls Hörstörungen. Wir erwägen derzeit den Kauf entsprechender Therapiemittel. Wie Sie bereits beschreiben ist für manche Geräte Voraussetzung, dass der Hörnerv noch ausreichend funktioniert.