Gewaltprävention ist ein wichtiges Thema in Pflegeeinrichtungen der Eingliederungshilfe. Maik Tzschentke erläutert als Multiplikator für Gewaltprävention in unserem Interview die Ursachen von Gewalt und die notwendigen Gegenmaßnahmen. Im Mittelpunkt steht das Gewaltschutzkonzept als erster Schritt zur Prävention.
Herr Tzschentke, wie entsteht Gewalt in stationären oder ambulanten Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen?
Die Ursachen für Gewalt in Pflegeeinrichtungen sind vielschichtig und komplex. Auf Seiten der Mitarbeitenden gibt es klassische Merkmale wie mangelnde Sensibilität für nonverbale Kommunikation, Über- und Unterforderung sowie private Probleme und dienstliche Schwierigkeiten im Kontext von Stress und Druck, beispielsweise durch erhöhte Pflegeanforderungen, die ebenfalls zu übergriffigem Verhalten führen können.
Auf Seiten der Bewohner*innen der Pflegeeinrichtungen können auch Menschen mit Beeinträchtigungen Gewalt ausüben. Diese Gewalt entsteht häufig als Symptom der Behinderung, besonders wenn Menschen sich verbal nicht ausdrücken können. Gewalt wird dann zum Signalverhalten, um zu zeigen: „Das möchte ich nicht“. Es drückt sich zum Beispiel in lautem Schreien, körperlichen Angriffen oder auch autoaggressivem Verhalten gegenüber sich selbst aus.
Wie müssen Einrichtungen darauf reagieren?
Ein wichtiges Element ist ein umfassendes Gewaltschutzkonzept. Seit 2021 sind Einrichtungen der Eingliederungshilfe verpflichtet, ein Gewaltschutzkonzept zu entwickeln und umzusetzen (Paragraf 37a Abs. 1 SGB IX). Genauso wichtig wie die gesetzliche Verpflichtung finde ich die grundsätzliche Haltung, dass eine Einrichtung gewaltfrei im Alltag sein möchte und klar dafür einsteht, keine Übergriffigkeiten zu tolerieren.
Zu Beginn des Schutzkonzeptes sollten Einrichtungen interdisziplinäre Arbeitsgruppen bilden, die auch externe Kräfte wie Ergotherapeut*innen oder Physiotherapeut*innen einschließen. Diese Arbeitsgruppen führen Risikoanalysen durch und entwickeln ein gemeinsames Verständnis dafür, ab welchem Punkt Gewalt beginnt. Denn Gewalt meint nicht nur physische Gewalt, wie zum Beispiel ein Schlag ins Gesicht. Sie beginnt oft schon viel früher, auf nonverbaler Ebene: Abwertende Mimik und Gestik oder mangelnde Aufmerksamkeit gegenüber einer Person können bereits sehr gewaltvoll wirken.
Zur Person
Maik Tzschentke ist Heilpädagoge und Multiplikator für Gewaltprävention bei den Harz-Weser-Werken. Für die Paritätische Akademie NRW gibt er Seminare zum Thema Gewaltprävention. Darunter sind auch Fortbildungen zum Thema ChatGPT für Leitungskräfte in der Kita.
Welche Kernpunkte sollte ein Gewaltschutzkonzept außerdem umfassen?
Ein entscheidender Punkt ist: Theoretische Konzepte sind ein Anfang, aber Schulungen für das Personal sind der wahre Kern des Gewaltschutzkonzepts. Sonst verschwinden Konzepte irgendwann im Regal. In dem Konzept wird verankert, dass Mitarbeitende und Führungskräfte regelmäßig an Fortbildungen teilnehmen, um sich für die unterschiedlichen Formen von Gewalt zu sensibilisieren. Denn es geht in einem Gewaltschutzkonzept nicht um konkrete Lösungsvorschläge, wie ich im Alltag auf Gewaltsituationen reagieren kann. Darin steht auch nicht, wie wir Gewalt konkret verhindern können. Das lernen die Mitarbeitenden und Führungskräfte in einzelnen Schulungen.
Vorab ist es deshalb aber wichtig, den Schulungsbedarf für verschiedene Formen von Gewalt festzustellen – für den Umgang mit körperlicher, seelischer, struktureller Gewalt, Cybergewalt oder Mobbing. Besonders bei sexueller Gewalt sind spezielle Fortbildungen wichtig, denn es müssen präventive Maßnahmen ergriffen werden, da Menschen mit Beeinträchtigungen oft wenig bis gar keine sexuelle Bildung erhalten.
Wie eine Einrichtung mit einem Vorfall umgeht, ist ebenfalls Teil des Konzeptes. Es wird eine konkrete Handlungsanweisung erstellt, wie Mitarbeitende und die Einrichtung den Vorfall dokumentieren und damit umgehen. Mitarbeitende beobachten den Vorfall und geben ihn lediglich weiter, sie haben damit ihre Pflicht getan. Bewertet wird er auf der Führungsebene von der Bereichsleitung. Dazu gehören ärztliche Untersuchungen, gegebenenfalls polizeiliche Strafanzeigen oder die Einbindung von gesetzlichen Betreuer*innen.
So vorzugehen, schafft für Mitarbeitende eine klare Handlungssicherheit und hilft dabei, Beobachtungen nicht unter den Tisch fallen zu lassen, sondern zu thematisieren. Dazu zählen auch Nachsorgegespräche, die eine wichtige Rolle einnehmen und oft unterschätzt werden: Antworten auf Fragen wie „Wie geht es mir nach der Situation?“ oder „Was müssen wir tun, um die Situation zu verbessern?“ helfen, mit Gewaltsituationen zurecht zu kommen.
Ziel des Konzeptes ist es in jedem Fall, sowohl das Thema zu enttabuisieren als auch Gewalt gar nicht erst aufkommen zu lassen. Es soll Vertrauen zwischen Mitarbeitenden, Leitung und Bewohner*innen schaffen, damit sich alle in der Einrichtung geborgen fühlen.
Artikelfoto: Canva
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