Mit digitalen Formaten ermöglicht die Selbsthilfeakademie NRW selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Lernen in der Selbsthilfe. Projektleiter Bernd Hoeber berichtet über den Austausch und die Erfahrungen mit dem erfolgreichen virtuellen Selbsthilfe-Café.
2020 wird uns noch lange in Erinnerung bleiben. Der erste Lockdown infolge der Corona-Pandemie schränkte das gesellschaftliche und soziale Leben stark ein, brachte es fast zum Stillstand. Selbsthilfegruppen konnten sich nicht mehr treffen, lang geplante Tagungen und Seminare der Verbände und Organisationen mussten von jetzt auf gleich abgesagt werden. Das betraf auch die Angebote der Selbsthilfeakademie NRW. Bezogen auf die Selbsthilfe fehlte der Austausch mit Gleichbetroffenen wohl am meisten.
Was konnten wir tun, um die wegfallenden Austauschmöglichkeiten zu kompensieren und mit unserer Zielgruppe in Kontakt zu bleiben? Das war die Ausgangssituation für unseren Lernprozess. Die neuen Erfahrungen mit digitalen Formaten, die wir im weiteren Verlauf des Jahres machen sollten, haben nicht nur unsere Methoden und Angebote verändert und – das sei vorweggenommen – bereichert, sondern uns grundsätzlich dazu angeregt, über das Lern- und Bildungsverständnis im Kontext der Selbsthilfe nachzudenken.
Selbsthilfeakademie NRW
Kernaufgabe der Selbsthilfeakademie NRW ist, Fort- und Weiterbildungsangebote für Selbsthilfegruppen und -organisationen in Nordrhein-Westfalen zu entwickeln und durchzuführen. Gefördert auf Projektbasis von der AOK Rheinland-Hamburg und AOK NORDWEST und in Trägerschaft der Gesellschaft für Soziale Projekte des Paritätischen NRW, startete das Angebot 2015 mit einer Modellphase und hat sich seitdem stetig entwickelt und etabliert. Für die Umsetzung ist die Paritätische Akademie NRW verantwortlich. Diplom-Sozialpädagoge Bernd Hoeber ist Projektleiter und seit 2003 in verschiedenen Feldern der Selbsthilfe im Paritätischen NRW aktiv.
Unsere Formate sind weniger lernzielorientiert angelegt, sondern profitieren stark vom Austausch der aus ganz Nordrhein-Westfalen kommenden Selbsthilfeaktiven. Die Coronakrise bewirkte, dass wir Bedenken hintanstellten und einfach damit begannen, digitale Austauschformate zu entwickeln. Wir wollten möglichst schnell eine leicht zugängliche Kontaktmöglichkeit für Selbsthilfeaktive anbieten. So entstand das “Virtuelle Selbsthilfe-Café”.
Startschuss für das virtuelle Selbsthilfe-Café
Wir legten einen virtuellen Konferenzraum an, entwarfen kleine Anleitungen für den Einstieg und versendeten eine Einladung über unsere Verteiler. Austausch, Begegnung und das Experimentieren mit dem neuen Format sollten im Mittelpunkt stehen. Ein Programm, feste Themen oder andere Vorgaben sahen wir dabei eher als hinderlich an. Wir starteten Ende März in einem wöchentlichen Rhythmus. Natürlich gab es hin und wieder technische Probleme, insgesamt waren wir jedoch erstaunt, wie viele Menschen – oft als völlige Neueinsteiger und unabhängig vom Alter – sich in kurzer Zeit auf die neue Kommunikationsform eingestellt hatten. Es half, dass wir das Café ausdrücklich als Ort zum Lernen und Ausprobieren beworben hatten. Da war es nicht schlimm, wenn etwas nicht klappte.
Wir vermuten, dass vor allem zu Beginn der Pandemie das Bedürfnis nach alternativen Austauschmöglichkeiten die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, deutlich förderte. Der pragmatische und niederschwellige Ansatz machte es uns und den Cafégästen zudem leicht. In der Regel waren – vor allem zu Beginn – zwischen 15 und 25 Personen dabei. Später und bei manchen Themen auch mehr, einmal beinahe 100. Als sehr hilfreich erlebten wir, dass sich eine kleine Gruppe von Stammgästen bildete, so das wir nicht jedesmal komplett neu starten mussten. Obwohl (oder gerade weil) wir kein festes Programm auf der Tagesordnung hatten, entwickelte sich das Selbsthilfe-Café zu einem sehr effektiven Lernort. Nach und nach entwickelte sich eine gewisse Nähe unter den Gästen – im virtuellen Raum! Damit hatten wir gar nicht gerechnet.
Das Selbsthilfe-Café wird zum Themen-Café
Nach einigen Wochen des Ausprobierens überlegten wir, ob inhaltliche Anstöße oder Impulse helfen könnten, um dem Austausch mehr Richtung und Tiefe zu verleihen. Zugleich wollten wir den offenen und ungezwungenen Charakter der Selbsthilfe-Cafés bewahren und uns selbst nicht in die “Anbieterrolle” bringen. So entstand die Idee, die Cafégäste stärker einzubinden. Die “Themencafés” starteten nach den Sommerferien 2020. Wir wechselten in einen 14-tägigen Rhythmus. Wir fragten ab, welche Themen die Teilnehmenden interessieren würden und schlugen vor, ihr Wunschthema im Café selbst vorzustellen. Der persönliche Erfahrungshintergrund der Vortragenden, die eigene Geschichte und die Auseinandersetzung mit dem Thema, spielten dabei eine wichtige Rolle. Das durfte ruhig persönlich und subjektiv sein. Perfektion dagegen war nicht erforderlich.
Für Themen, die nicht von Selbsthilfeaktiven vorgestellt wurden, haben wir teilweise externe Gäste eingeladen. Zum Beispiel eine Blogautorin, eine Sozialwissenschaftlerin oder eine Mitarbeiterin der Telefonseelsorge. Von Beginn an war das Publikum sehr gemischt: Vertreter*innen aus Vorständen von Landes- oder Bundesverbänden, Mitglieder örtlicher Selbsthilfegruppen, ehrenamtlich Selbsthilfeaktive und hauptamtliche Selbsthilfeunterstützer*innen. “Digitale” traf auf “analoge” Selbsthilfe. Der digitale Raum sorgte für eine größere, überregionale Reichweite. Immer wieder nahmen Gäste aus anderen Bundesländern teil.
Der digitale Schub für unsere Seminarangebote
Den Schub, den wir durch die Selbsthilfe-Cafés erfahren hatten, setzten wir direkt in die Planung von weiteren Online-Angeboten um. Schon bald konnten die ausfallenden Präsenzangebote, zumindest teilweise, mit alternativen Onlineseminaren aufgefangen werden. Achtsamkeitstrainings, Resilienz-Workshops, Seminare zur Moderation von Online-Gruppentreffen, sogar Fotografie-Workshops ließen sich digital nicht nur denken, sondern auch kreativ umsetzen. Ganz sicher werden digitale Formate die Präsenzangebote im Fortbildungsbereich nie ersetzen. Aber online/digital hat uns bereichert, methodenstärker, flexibler, kreativer und offener gemacht.

Selbstbestimmtes Lernen in neuen Formaten
Das hat uns zu der Frage gebracht, wie wir künftig Lernangebote für die (kompetenten) Menschen in der Selbsthilfe gestalten wollen? Menschen, die sich in der Selbsthilfe engagieren und aktiv mitmischen, primär nur als Empfänger*innen für extern aggregiertes Wissen zu sehen, geht dabei aus unserer Sicht in die falsche Richtung. Offene, selbstbestimmte oder selbstorganisierte Lernsettings, in denen Selbsthilfeakteur*innen die von ihnen als wichtig erachtete Fragen einbringen, an Lösungen basteln, verschiedene Meinungen entwickeln und miteinander diskutieren, stehen für eine andere Art des Lernens. Das Selbsthilfe-Café hat uns in kleinem Maßstab gezeigt, wie das aussehen könnte.
Die Mischung macht’s – oder: raus aus der Blase!
Die Erfahrungen aus dem Selbsthilfe-Café mit einem gemischten Publikum waren durchweg positiv und erfrischend. Warum, so fragen wir uns, finden dann viele Veranstaltungen in der Selbsthilfelandschaft in eher homogenen und abgeschotteten Settings statt? Braucht es im Gegenteil nicht mehr Diversität und Diskurs? Wie kann und soll Diskurs fruchtbar werden, wenn er in der eigenen “Blase” stattfindet? Das gilt für die unterschiedlichen Akteur*innen und Ebenen innerhalb der Selbsthilfe: regional und überregional, haupt- und ehrenamtlich, kleine Gruppe und großer Verband, Mitglieder und Vorstände, digital und analog usw. Hier wird oft zu wenig miteinander geredet und voneinander gelernt. Das gilt mit Blick auf eine zukünftige Perspektive auch für den Dialog zwischen dem Subsystem “Selbsthilfe” und anderen relevanten Subsystemen aus den Bereichen Bildung, Gesundheit oder Politik, um zu einer echten Teilhabe und einem ernstzunehmenden Diskurs zu gelangen.
To be continued: Das Thema weiterdenken
Abschließend sei gesagt: Digitalisierung ist keine Lösung oder gar Garant für empowernde Peer-to-Peer-Lernräume. In diesem Sinn ist das virtuelle Selbsthilfe-Café für uns nicht nur deshalb interessant, weil es digital ist. Es ist interessant, weil es uns dabei hilft, neue Lernarrangements zu entwickeln. Es ist besonders, weil es horizontale Ebenen zusammenbringt und einen vertikalen Austausch ermöglicht.
Digitale Methoden und Formate können dabei helfen, diese Prozesse auf den Weg zu bringen oder zu beschleunigen. Aber sie sind Werkzeuge, nicht das Ziel. Das digitale Lernen erfordert selbst Lernprozesse zu initiieren: kreative, kritische und experimentelle. Hier stehen wir erst am Anfang. Zugleich hat die Corona-Pandemie uns gezeigt: es geht endgültig nicht mehr um das ob, sondern nur noch um das wie.
Wir sind überzeugt, dass neue Lernmodelle gut zur Selbsthilfe und insgesamt in die Selbsthilfelandschaft passen. Diese Methoden und Formate bieten nicht nur die Chance, auf aktuelle Herausforderungen und Themen angemessen zu reagieren. Sie können darüber hinaus von der Selbsthilfe als wirkungsvolle Werkzeuge genutzt werden, um selbst Lernorte für Austausch, Dialog und Diskurs, ob analog oder digital, zu initiieren. Mit Open Space und Barcamps verschiedene Menschen, Institutionen und Perspektiven einzuladen, voneinander zu lernen. Es wird Zeit, dass die Selbsthilfe sich stärker und selbstbewusster als Bildungsanbieter und Stifter von Bildungs- und Lernorten einbringt, als nur primär selbst Adressat von Bildungsangeboten zu sein. Darüber und zu den hier beschriebenen Thesen würden wir uns eine stärkere Debatte wünschen.
Eindrücke vom Selbsthilfe-Camp 2019 der Selbsthilfeakademie NRW bekommt ihr in diesem YouTube-Video:
Symbolfoto: Antonio Diaz/istockphotos
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