Bei “Housing First” bekommen Wohnungslose einen Wohnraum und Hilfe gestellt. Viele von ihnen finden dadurch in ein normales Leben zurück. Der Paritätische NRW und der Träger fiftyfifty/Asphalt e.V. haben deshalb den “Housing-First-Fonds” gegründet.
Im Interview verrät Projektkoordinatorin Sylvia Rietenberg vom Paritätischen Landesverband NRW, welche Ziele mit dem Projekt verfolgt werden.
Frau Rietenberg, was versteht man unter “Housing First”?
Housing First (englisch, “Wohnen zuerst”) ist ein Ansatz in der Wohnungslosenhilfe, nach dem jeder Mensch ein Recht auf eine Wohnung hat. Diese Idee unterscheidet sich von den üblichen Ansätzen, die zuletzt in Deutschland in der Wohnungslosenhilfe angewendet wurden. In den üblichen Maßnahmen, sind sie ein oder zwei Jahre betreut untergebracht, was aber in den seltensten Fällen in ein Mietverhältnis der beteiligten Personen übergeht. Housing First bedeutet, dass den Menschen ein Mietvertrag mit allen Rechten und Pflichten ebenso zur Verfügung gestellt wird, wie die Hilfe, die es benötigt, in der Wohnung zu verbleiben.
Der “Housing-First-Fonds” ist an Wohnungslose gerichtet, die schon sehr lange oder immer wieder auf der Straße leben und in der Kette der Wohnungsvermittlung ganz unten stehen. Der Träger fitftyfifty aus Düsseldorf ist unser Projektpartner und hat mittlerweile über 50 Wohneinheiten zur Verfügung, in die Wohnungslose vermittelt wurden.

Sorgt es bei den Menschen für eine ganz andere Perspektive, wenn sie eine Wohnung zur Verfügung gestellt bekommen?
Ja, dieser Ansatz unterscheidet sich klar von den anderen Methoden, die davon ausgehen, dass der Mensch sich die Hilfe erst einmal erarbeiten muss. Es gibt Wohnungslose, bei denen diese neue Form Sinn macht, weil sie mit anderen Systemen nicht klarkommen. Man kann das mit der Suchthilfe vergleichen: Nicht jeder Mensch findet über einen Entzug zurück ins normale Leben, manchen hilft auch eine Substitution mit Methadon.
Warum ist es wichtig, dass Wohnungslose zunächst eine Wohnung bekommen, ehe andere Probleme angegangen werden?
Wenn Menschen jahrelang auf der Straße gelebt haben, sind sie oft gesundheitlich sehr angeschlagen und verelendet. Da spielt auch das Thema Sicherheit eine Rolle, weil sie keinen festen Schlafplatz eingerichtet haben und ständig in Gefahr sind. Das führt dazu, dass sie sich nicht darauf konzentrieren können, wieder soziale Kontakte zu pflegen oder Arbeiten zu gehen. Die Wohnung gibt ihnen eine Form von Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und schließlich ihre Würde zurück.
Welche fortlaufenden Hilfen bekommen die Menschen, wenn sie ihre Wohnung bezogen haben?
“Housing first” bedeutet nicht “Housing only”. Es gibt nicht den Schlüssel und das war`s. Die beteiligten Träger bieten immer wieder aufsuchende Hilfe an, die aber nicht angenommen werden muss, um Mieter*in der Wohnung zu bleiben. Die Erfahrung zeigt, dass die Menschen aus der gestiegenen Verantwortlichkeit gegenüber sich selbst dann auch Unterstützung annehmen.
Hat das etwas mit Dankbarkeit zu tun?
Ja, aber auch damit, zu merken, dass es gar nicht so einfach ist, den Alltag nach Jahren auf der Straße zu bestreiten – zum Beispiel bei Besuchen auf dem Amt. Einsamkeit ist ebenfalls ein Thema. Viele brauchen deshalb eine*n Ansprechpartner*in, um diese Themen anzugehen.
Was sind das für Menschen, die in die Wohnungen einziehen?
Das ist individuell unterschiedlich. Was man sagen kann ist, dass alle irgendwann in ihrem Leben abgestürzt sind und dass es keiner von ihnen als schön empfindet, auf der Straße zu leben. Das hat nichts mit Freiwilligkeit zu tun, sondern mit persönlichen Schicksalsschlägen, wie Todesfällen, Trennungen, Arbeitslosigkeit oder Suchtproblemen. Es sind teilweise Menschen, die jahrelang auf der Straße gelebt haben. Sie haben keine Lobby und oft denken ihre Mitmenschen, dass sie es selber Schuld sind. Wie sollen solche Menschen auf regulärem Weg eine Wohnung finden?
WOHNUNGSLOSIGKEIT
In Nordrhein-Westfalen wird Wohnungslosigkeit im Wohnungsnotfall-Bericht festgehalten. Laut diesem Bericht waren im Jahr 2018 44.434 Menschen in NRW von Wohnungslosigkeit betroffen. Diese Zahl ist vermutlich höher, da viele Wohnungslose in prekären Verhältnissen leben, zum Beispiel bei Verwandten oder in anderen Beziehungen.
Wie erfolgreich ist Ihr Projekt bislang?
Wir haben aktuell 29 Wohnungen in unterschiedlichen Städten in Nordrhein-Westfalen sicher, davon sind einige bezogen und andere werden demnächst bezogen werden können. Wir sind aber noch auf der Suche nach weiteren Trägern. Der angespannte Wohnungsmarkt ist eine Bremse. Viele Träger würden gerne mehr machen, können es aber nicht. Die Mieten dürfen nicht horrende sein, damit die Miete vom Jobcenter mit Leistungen aus dem SGB II refinanziert werden können. Dabei brauchen die Mieter*innen oft nur kleine Wohneinheiten von ca. 35 bis 40 Quadratmetern. Diese gibt es auf dem Markt aber kaum noch.
Allgemeine Studien über Housing First zeigen, dass der Anteil von Langzeitwohnungslosen mit komplexen Problemen in Housing-First-Projekten langfristig bei 78 bis 90 Prozent Haltequote beträgt. Das ist eine richtig gute Quote.
Wie funktioniert der Housing-First-Fonds?
Das Geld für den Ankauf von Wohnungen kommt aus Kunstspenden. Der Künstler Gerhard Richter hat für dieses Projekt mehrere Gemälde an unseren Projektpartner fiftyfifty gespendet, die versteigert wurden und deren Erlöse in den Fonds geflossen sind. Das Treuhandkonto wird von der Paritätischen Geldberatung verwaltet. Die Träger bekommen daraus 20 Prozent ihrer Eigenmittel zum Ankauf oder zur Renovierung einer Wohnung, wenn sie sich beteiligen. Sie verpflichten sich, die Wohnungen 25 Jahre für die Zielgruppe zur Verfügung zu stellen. Zusätzlich fördert das Land NRW das Projekt im Bereich Personal, Weiterbildung und wissenschaftliche Evaluation.
Zahlen die Wohnungslosen Miete?
Ja, zunächst bekommen die Träger Geld aus den Leistungen des SGB II. Wenn die Teilnehmenden wieder in Arbeit kommen, zahlen sie ganz normal Miete. Allerdings bekommen die Träger dann keine Zuschüsse vom Landschaftsverband mehr, wenn sie keine Betreuung mehr leisten müssen. Die Menschen werden dann unbefristet auch ohne Betreuung weiter in Ihren Wohnungen wohnen. Es ist also ein Erfolg, wenn ein Wohnungsloser keine Hilfe mehr in seinem Leben benötigt.
Gibt es Vorurteile gegenüber einem Projekt wie Housing First? Zum Beispiel von Leuten, die selbst auf Wohnungssuche sind, und dem Projekt vorwerfen, dass Wohnungslose quasi umsonst einziehen können?
Alle Menschen haben ein Recht auf eine Wohnung und es ist traurig, wenn jemand lange darauf warten muss. Es ist aber nicht so, dass jeder Mensch einen geraden Lebensweg hat. Es gibt einfach Menschen, die so weit unten angekommen sind, dass sie Hilfe benötigen. Dazu zählen Wohnungslose, die nicht mehr die Kraft haben, irgendwo anzufangen und sich in einer Abwärtsspirale befinden. Es muss der Anspruch einer Gesellschaft und eines Fürsorgestaates sein, sich um diese Menschen zu kümmern.
Warum nimmt sich der Paritätische Landesverband NRW der Sache an?
Das Projekt Housing-First-Fonds soll zeigen, dass es möglich ist, Wohnungen auch an die Menschen zu vermieten, die in der Gesellschaft häufig als „nicht wohnfähig“ angesehen werden – wenn Ihnen die Hilfe gegeben wird, die sie benötigen, um wieder ins Leben zurück zu finden. Wohnen ist ein Menschenrecht und Wohnungspolitik ist Sozialpolitik. Daher ist es aus unserer Sicht auch Aufgabe eines Sozialverbandes, auf die Probleme von Wohnungslosen Menschen aufmerksam zu machen. Wenn nur noch bestimmte Menschen Zugang zu Wohnraum haben, werden sie an der gesellschaftlichen Teilhabe gehindert. Dies ist ein Zeichen, dass in einer Gesellschaft etwas grundsätzlich schief läuft.
Artikelfoto, Teilnehmer des Housing-First-Projektes: Foto Katharina Mayer
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