Stephan Wolf schult Berater*innen aus der Sozialen Arbeit darin, wie sie wohnungslose Menschen gezielt unterstützen können. In unserem Interview spricht er über gefühlte Unsichtbarkeit in der Gesellschaft, Klient*innen als “weiße Blätter” und gemeinsames Handeln.
Stephan Wolf, gibt es für Sie einen „wichtigsten Grundsatz“ in der Beratung von wohnungslosen Menschen? Wie lautet er?
Einen einzelnen Grundsatz herauszupicken ist schwer, da es gerade zu Beginn der Beratung mehrere wichtige Schritte gibt. Weil die Lebenssituation von allen Menschen immer komplex und unterschiedlich ist, sollten Berater*innen zunächst aktiv zuhören. Für Berater*innen ist das Standard, bei wohnungslosen Menschen als Klient*innen aber erst recht unerlässlich, denn diese Menschen fühlen sich in der Gesellschaft oft nicht gesehen und gehört. Sie reagieren deshalb meist positiv, wenn ihnen jemand zuhört.
Weil mit Wohnungslosigkeit, Verschuldung oder Verwahrlosung oft Schuldgefühle einhergehen können, sollten Berater*innen sich gerade in den ersten Gesprächen viel Zeit nehmen. Ein transparenter Austausch sorgt für Sicherheit und Vertrauen bei den Menschen, die sich offenbaren müssen und sonst kaum die Freiheit haben, sich zu artikulieren.
Die Praxis zeigt: Wer zum Start in die Anamnese und Analyse investiert, kann leichter Strukturen für die Beratung entwickeln und ist am Ende erfolgreicher. Eine weitere entscheidende Grundlage ist es, gemeinsam strukturiert Ziele zu setzen, damit die Betroffenen mittelfristig handlungsfähiger werden und ihr Leben langfristig gestalten können.
Welche Situationen erleben Berater*innen und wie können Sie darauf reagieren? Können Sie drei Beispiele nennen?
Die erste Situation betrifft die Informationen, die Berater*innen über einen Menschen bekommen. Hier gibt es zum Start der Beratung zwei Möglichkeiten. Erstens: Die wohnungslosen Menschen sind nicht nur mittellos, sondern besitzen nur wenige wichtige Dokumente oder Informationen. Sie sind ein weißes Blatt. Hier beginnen die Berater*innen damit, Informationen aktiv mit den Betroffenen einzuholen. Zweitens: Die wohnungslosen Menschen kommen mit vielen, teils ungeöffneten oder beschädigten Dokumenten. In beiden Fällen bringen Berater*innen zunächst einmal Struktur in die Informationen. Diese können zum Beispiel darüber entscheiden, ob eine Person weitere Unterstützung, zum Beispiel aus Pflege- oder Krankenversicherung, erhalten kann.
Die zweite Situation betrifft die Verschuldung oder Überschuldung, die der Wohnungslosigkeit oft zugrunde liegt. Berater*innen haben es häufig mit Klient*innen zu tun, die finanziell vor dem Nichts stehen. Sie können den Hebel zunächst bei nicht abgerufenen Sozialleistungen ansetzen. Teils sind diese den Klient*innen nicht bekannt oder nicht durchgesetzt worden. Berater*innen schauen zunächst, welche Ansprüche vorliegen, und knüpfen dann Kontakte mit anderen Diensten wie einer Schuldenberatungsstelle.
Für die dritte Situation möchte ich einbringen, dass Berater*innen auf wohnungslose Familien mit Kindern treffen können. Dann besteht eine andere Dynamik. Der Handlungsdruck auf der Familie und auf den Institutionen ist wesentlich stärker als bei einer erwachsenen Einzelperson. Zunächst geht es darum, das Kindeswohl zu sichern. Die Beratung erfordert viel Feingefühl, Fachwissen und Kommunikation mit allen Akteur*innen. Kinder sollten nicht als “kleine Erwachsene” gesehen werden. Sie sind zwar als Akteur*innen im Beratungssetting zu sehen, aber nicht verantwortlich für die Situation und dafür, sie zu überwinden. Das liegt bei den Erziehungsberechtigten und bei den Ämtern.
Zur Person
Stephan Wolf ist Soziologe, Migrationsberater und ehemaliger Schulden- und Insolvenzberater. In seinen Seminaren bei der Paritätischen Akademie NRW schult er Fachkräfte aus der Sozialen Arbeit, die zum Beispiel in Beratungsstellen für wohnungslose Menschen, als Schulsozialarbeiter*innen, Erzieher*innen oder in Schuldenberatungsstellen arbeiten.
Wie können Berater*innen im Gesamten Struktur in die Beratung bringen?
Es gibt verschiedene Methoden und Hilfsmittel. Ich betone noch einmal, dass gerade am Anfang weniger oft mehr ist. Grundsätzlich wird die Situation mit den wohnungslosen Menschen analysiert und mit ihnen werden neue Ziele gesetzt. Die Klient*innen entscheiden, was für sie am wichtigsten ist. Themen zu bearbeiten, die nicht in deren Sinne sind, ist schwierig.
Es ist wenig zielführend in der Beratung Klient*innen zum Beispiel davon zu überzeugen, ihren Handyvertrag zu kündigen – auch wenn sie sagen, dass es für sie wichtiger ist, erreichbar zu sein, als Geld zu sparen. Natürlich können Berater*innen darauf hinweisen. Solange sie keine Vollmacht haben, können sie aber nur Handlungsempfehlungen geben. Struktur bedeutet in der Beratung oftmals auch gemeinsames Handeln.
Welche Fragen stellen sich, wenn Menschen keinen gesicherten Aufenthalt haben und nicht Deutsch als Muttersprache sprechen?
Neben sprachlichen Barrieren spielen weitere Punkte für Berater*innen eine Rolle: die eigene interkulturelle Kompetenz und das eigene Fachwissen zum Asyl- und Aufenthaltsrecht. Hier tauchen häufig Fragen zu den eigenen Kompetenzen auf. Ich erlebe häufig, dass die Hemmschwelle zur Beratung von Migrant*innen größer ist, als die Herausforderungen, die sich für mich als Berater*in daraus letztendlich ergeben.
Als Berater*in würde ich nicht in den Vordergrund stellen, sehr viele Sprachen zu sprechen, mich in möglichst vielen Kulturen auszukennen und alle Gesetze auswendig zu kennen. Entscheidend ist, wie ich mein Netzwerk nutze. Kann ich technische Methoden wie Übersetzungstools einsetzen? Kann ich Ehrenamtler*innen für die Beratung akquirieren, zum Beispiel als Übersetzer*innen? Welche Akteur*innen aus meinem Netzwerk helfen niedrigschwellig und kurzfristig weiter? Und welche sind meine eigenen Stärken, die ich in den aktuellen Fall einbringen kann? Wenn diese Fragen strukturiert geklärt sind, kann der Beratungsprozess beginnen.
Artikelfoto: Adobe Stock/Roman Bodnarchuk
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