Kindliche Lernprozesse sind im Kita-Alltag allgegenwärtig – auch wenn sie nicht immer als solche wahrgenommen werden. Bildungs- und Erziehungswissenschaftler Steffen Jeran erklärt, welche oftmals unerkannten Lernprozesse Kinder machen, und gibt Tipps für eine anregende Lernumgebung.
Von unserem Gastautor Steffen Jeran
Zur Person
Steffen Demian Jeran ist studierter Bildungswissenschaftler mit Masterabschluss und promoviert zurzeit im Fachgebiet Erziehungswissenschaft. Nach vorangegangen praktischen Tätigkeiten in frühkindlicher Bildung sowie Jugend- und Erwachsenenbildung und der Arbeit als Dozent an einer Fachschule ist er seit 2021 als selbstständiger Referent, Fachberater und Evaluator tätig. Für die Paritätische Akademie NRW gibt er das Seminar „Wie Kinder lernen“.
Lernen durch Beobachtung
Kinder lernen, indem Sie Verhaltensweisen und deren Konsequenzen beobachten. Ein Kind, das beispielsweise einem anderen Kind beim Sandburgenbau zuschaut, imitiert die Handlungen und entwickelt so eigene Fähigkeiten. Anfangs gelingt es ihm noch nicht so gut, aber mit der Zeit wird es immer geschickter und baut schließlich selbst eine stabile Sandburg. Pädagogische Fachkräfte in der Kita erkennen das Beobachtungslernen daran, dass das Kind die beobachteten Schritte imitiert und eigene Fähigkeiten ausprobiert. Sie sollten sich ihrer Rolle als Vorbilder bewusst sein und prosoziales Verhalten vorleben.
Lernen durch Wiederholung
Irgendwann hat man etwas in seinem Leben zum ersten Mal gemacht: ein Wort gesagt, gestanden, gelaufen. Je häufiger Menschen etwas machen, umso geschickter werden sie darin. Im Gehirn werden dabei neue Strukturen geschaffen und bestehende ausgebaut – sogenannte neuronale Netzwerke. Praktisch können Fachkräfte das in der Kita häufig daran sehen, wenn Kinder bestimmte Tätigkeiten mehrfach hintereinander wiederholen. Zum Beispiel läuft ein Kind mehrere Minuten im Krebsgang den Flur auf und ab – am Anfang fiel es dem Kind noch sehr schwer, lief langsam, stürzte vielleicht das ein oder andere Mal, machte aber weiter. Wo manche Fachkräfte dann den Impuls verspüren, dies irgendwann zu unterbinden, da man „manchmal auch mal aufhören muss“, lernt das Kind neue Bewegungsabfolgen, erlebt Freude und entwickelt neue neuronale Bahnen. Wiederholungen können für die Umwelt manchmal nervig oder schwer auszuhalten sein, sind für die Kinder aber notwendig, um Gelerntes zu verinnerlichen.
Das Problem von Strafen aus lerntheoretischer Sicht
Bestrafungen schwächen die Bindung zwischen Kind und pädagogischer Fachkraft und können unerwünschte Verhaltensweisen verstärken. Statt Strafen sollten alternative Handlungsstrategien aufgezeigt und gelernt werden, um die gewünschten Verhaltensänderungen zu erreichen.
Ein Beispiel: Ein Kind hat ein anderes Kind geschubst und wird mit einer “Auszeit” in einem anderen Raum “bestraft”. Das Kind soll vermeintlich reflektieren, dass sein Verhalten falsch war. Aber führt die Strafe auch dazu? Wer zunächst schaut, was die Ursache für das Verhalten war, geht anders an die Sache heran. In einer lauten und stressigen Umgebung mit vielen Menschen kann es schneller zu körperlichen Auseinandersetzungen kommen. Vielleicht hat das Kind ein Ruhebedürfnis gehabt, aber keine Rückzugsmöglichkeit, und ein anderes Kind geschubst, weil es jenes als besonders laut wahrgenommen hat. Durch das Bedürfnis nach Ruhe wirkt eine Auszeit auf das Kind nicht wie eine Strafe – im Gegenteil, das Kind könnte lernen: „Wenn ich schubse, kriege ich Ruhe“.
Im schlimmsten Fall wird das Verhalten dadurch eher verstärkt, weil auch keine alternativen Handlungsstrategien aufgezeigt werden. Die Strafe schwächt außerdem die Bindung zwischen Kind und erwachsener Person. Langfristig sorgen Bestrafungen für erhöhte Aggressivität, Angst oder ein verringertes Selbstwertgefühl bei Kindern.
Den Raum als Lernumgebung gestalten
Die Konsequenzen für die pädagogische Praxis:
- Um für Kinder eine anregende Lernumgebung zu gestalten, ist es wichtig, sich als pädagogische Fachkraft mit dem Thema Lernen vertiefend auseinanderzusetzen.
- Lernen ist eng mit positiven Emotionen verknüpft, weshalb eine gute Beziehung wichtig ist, in der die pädagogische Fachkraft ohne Strafen agiert und dem Kind das Gefühl gibt, sicher zu sein sowie angenommen zu werden.
- Jedes Kind ist einzigartig und lernt unterschiedlich schnell. Angebote und Lernumgebungen sollten auf den Entwicklungsstand der Kinder abgestimmt sein. Zum Beispiel hilft es, wenn ein Kind bei Tätigkeiten nicht unter- oder überfordert wird.
- Der Raum hat als „dritter Erzieher” eine wichtige Bedeutung. Er sollte vielfältiges Material, Bewegungsmöglichkeiten und Rückzugsmöglichkeiten bieten. Ein Beispiel ist ein Raum mit unterschiedlichen Spielsachen und genug Platz zum Bewegen.
- Verbote und Regeln sind wichtig, um Grenzen aufzuzeigen, Frustrationstoleranz zu lernen und im besten Fall allen Beteiligten eine sichere Umgebung zu ermöglichen, gleichsam können sie aber auch einengen, nicht eindeutig oder bei näherem Hinschauen gar nicht sinnvoll sein.
Zusammenfassend bedürfen gelingende kindliche Lernprozesse daher einer Bindung, eines Blickes für Individualität, gezielter Angebote und Bereitstellungen von Material sowie eines hohen Maßes an Verstehen, Verständnis und Reflexion der pädagogischen Fachkräfte.
Artikelfoto: Canva
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