Wie nehmen Menschen mit Sehverlust ihre Umwelt wahr und welche Rolle spielt das bei Seminaren? Johannes Willenberg vom Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen e.V. (BSVW) erklärt in unserem Interview, wie Inklusion in der Weiterbildung funktionieren kann.
Herr Willenberg, wie nehmen Menschen mit Sehverlust ihre Umwelt wahr?
Das geschieht auf sehr unterschiedliche Weise. Je nach Art des Sehverlusts erleben Betroffene ihre Umwelt sehr verschieden: Es gibt Einschränkungen wie Gesichtsfeldeinschränkungen, Sehschärfe- und Kontrastverluste oder Doppelsehen, die das Lesen und das Erkennen von Formen erschweren. Diese Wahrnehmungsveränderungen können sehr individuell und dynamisch sein, abhängig davon, wie sich der Sehverlust entwickelt.
Der menschliche Drang, etwas zu sehen, ist sehr groß. Deshalb versuchen viele Menschen mit Sehverlust, solange es geht optisch wahrzunehmen. Gleichzeitig werden mit fortschreitendem Sehverlust andere Sinne wichtiger. Akustische Signale und Berührungen gewinnen an Bedeutung, da Betroffene gezielt darauf achten, was für sehende Menschen im Alltag oft nebensächlich bleibt. Sie hören nicht besser, aber konzentrierter. Ein Freund von mir, der keine Augen hat, kann Straßenbahnlinien allein am Geräusch erkennen – eine Fähigkeit, die sich über gezielte Wahrnehmung entwickelt hat.
Zur Person
Johannes Willenberg ist Mitarbeiter des Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen e.V. (BSVW). Er ist Berater im Angebot “Blickpunkt Auge”, einem Beratungsstandard des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes, bei dem betroffene Menschen in Beratungskompetenz geschult werden und anschließend selbst als Berater*innen tätig sind. Johannes Willenberg ist selbst Jurist und an einer Retinopathie erblindet.
Was bedeutet das für einen Besuch in Weiterbildungsveranstaltungen?
Für Menschen mit Sehverlust sind Weiterbildungsveranstaltungen oft eine Herausforderung, die durch individuelle Anpassungen erleichtert werden kann. Da Barrieren oft durch mangelhafte Kommunikation entstehen, ist ein offener Austausch zwischen Veranstaltenden und Teilnehmenden mit Sehverlust gleich zu Beginn besonders wichtig. Besonders hilfreich ist es, wenn die Teilnehmenden sich im Vorfeld persönlich mit den Dozierenden abstimmen können, da sich die Bedarfe je nach Format und Struktur der Weiterbildung unterscheiden.
Wichtig ist, dass diese Bedürfnisse individuell berücksichtigt werden. Entscheidend für eine barrierefreie Teilnahme kann zum Beispiel sein, dass die Person einen geeigneten Sitzplatz bekommt, oder dass sie die Materialien digital vorab zugeschickt bekommt. Ist das Seminar auf Kommunikation in der Gruppe angelegt, bieten Vorstellungsrunden eine Gelegenheit, den eigenen Sehverlust bei Bedarf anzusprechen und die Bedürfnisse zu klären. Der Austausch und die Bereitschaft auf beiden Seiten fördern ein reibungsloses Miteinander.
Wie nehmen Dozierende Menschen mit Sehverlust ins Seminar auf, ohne zu stigmatisieren?
Für Menschen mit Sehverlust ist es besonders wichtig, in Weiterbildungskursen das Gefühl der Eigenkontrolle zu haben und sich nicht exponiert zu fühlen. Die beste Praxis ist daher, den Betroffenen selbst die Entscheidung zu überlassen, inwiefern sie ihre Bedürfnisse offenlegen möchten. Solange diese Freiheit gewahrt bleibt, fühlen sich viele Menschen mit Sehverlust respektiert und als gleichwertige Teilnehmende aufgenommen.
Wie fühlen sich Menschen mit Sehverlust in der Weiterbildungslandschaft?
Ob sie Weiterbildungsangebote besuchen können, ist für Menschen mit Sehverlust sehr unterschiedlich. Viele Betroffene erleben den Zugang zur Weiterbildung als Herausforderung. Sie wissen oft nicht, welche Bildungsangebote für sie relevant und zugänglich sind. Viele Menschen mit Sehverlust sind ältere Menschen. Für sie steht berufliche Weiterbildung oft nicht (mehr) im Mittelpunkt ihres Lebens.
Für Berufstätige mit Sehverlust ist die Teilnahme an Weiterbildung oft mit Institutionen wie dem Integrationsamt verbunden, die die notwendigen Maßnahmen genehmigen und unterstützen. Die Resonanz auf die Teilnahme an solchen Angeboten reicht von sehr positiv bis hin zu Enttäuschung über die Bedingungen vor Ort. Hier zeigt sich, dass Kommunikation zwischen Anbietern und Teilnehmenden eine wesentliche Rolle spielt, um Erwartungen zu klären und geeignete Bedingungen zu schaffen.
Zum Projekt
Wie können inklusive Weiterbildungsveranstaltungen realisiert werden? Diese Frage steht im Zentrum des Projektes “Gelingensfaktoren für eine inklusive Weiterbildung für Menschen mit und ohne Sehbeeinträchtigungen”. Die Paritätische Akademie NRW führt das Projekt im Jahr 2024 in Kooperation mit dem Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen e.V. (BSVW) und gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW durch (im Rahmen des Innovationsfonds für Weiterbildung 2024).
Wie können Weiterbildungsorganisationen Menschen mit Sehverlust ihre Angebote nahebringen?
Weiterbildungsorganisationen können Menschen mit Sehverlust auf mehreren Wegen informieren. Eine zentrale Rolle können hierbei Multiplikatoren wie der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) spielen, dessen Publikationen und regionale Gruppen gezielt genutzt werden können, um Betroffene zu erreichen. Auch Beratungsangebote wie „Blickpunkt Auge“ bieten Weiterbildungsanbietern eine wichtige Schnittstelle zu Menschen mit Sehverlust.
Zudem kann eine Website, die Barrierefreiheit thematisiert und zeigt, dass die Bedürfnisse von Menschen mit Sehverlust aktiv mitgedacht werden, das Vertrauen stärken. Solche Hinweise senken die Hemmschwelle, mit den Organisationen Kontakt aufzunehmen und sich anzumelden.
Welche Arbeit leistet der BSVW, um Teilhabe an Veranstaltungen zu ermöglichen?
Der Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen (BSVW) setzt sich aktiv dafür ein, die Teilnahmechancen von Menschen mit Sehverlust an Weiterbildungsangeboten zu verbessern. Durch gezielte Kooperationen und Schulungen sensibilisiert der Verein Weiterbildungsorganisationen und zeigt auf, wie Veranstaltungen barrierefreier gestaltet werden können. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf Selbsterfahrungselementen für das Lehrpersonal, die zu mehr Verständnis und Akzeptanz beitragen.
Gleichzeitig bestärkt der BSVW seine Mitglieder darin, bestehende Bildungsangebote zu nutzen und die damit verbundenen Ängste abzubauen. Dabei fungieren die Mitarbeitenden des BSVW auch selbst als Referent*innen und bieten Schulungen aus erster Hand an. So wird eine umfassende Integration von Menschen mit Sehverlust in die Weiterbildungslandschaft vorangetrieben.
Artikelfoto: Canva
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