Case Management ist ein Handlungskonzept, bei dem die Lebenssituation eines Menschen individuell und ganzheitlich betrachtet wird. Case Managerin und Case Management-Ausbilderin (DGCC) Denise Lehmann berichtet im Interview, welche Vorteile das in verschiedenen Arbeitsfeldern hat.
Frau Lehmann, wie sieht der Alltag von Case Manager*innen aus?
Grundsätzlich ist das Handlungsfeld im Case Management so vielfältig, dass man das gar nicht pauschal beantworten kann. Es gibt viele unterschiedliche Modelle in der Praxis. Jede Organisation entscheidet, wie das Handlungskonzept individuell auf den jeweiligen Kontext angepasst wird. Es gibt Case Manager*innen im kommunalen Integrationsmanagement, die sich mit der Lebenssituation von einzelnen Menschen befassen. Es gibt aber auch Case Manager*innen, die fallübergreifend tätig sind und sich zum Beispiel auf der Ebene von Netzwerken oder Regionen für bestimmte Zielgruppen um verbesserte Versorgungsstrukturen einsetzen.
Ein paar grundlegende Aussagen zum Case Management im Kontakt zu Menschen kann man aber treffen. Allgemein gilt die Haltung, nicht zu generalisieren, sondern individuell auf die*den Einzelne*n zu schauen. Bei der Fallbegleitung schauen Case Manager*innen sich zunächst mit den Klient*innen die Bedarfslage, die Ressourcen und Stärken sowie deren individuelle Ziele an bzw. unterstützen dabei, einen Zugang zu diesen zu finden und diese zu entwickeln. Die Case Manager*innen vermitteln und vernetzen die Menschen mit Einrichtungen und Kostenträgern und verschaffen ihnen dadurch Zugang zu professionellen oder ehrenamtlichen Leistungen. Außerdem wird der Blick der Klient*innen auf Ressourcen im eigenen Umfeld gelenkt. Sie werden ermutigt, diese Ressourcen zu nutzen, weil diese sie in ihrer Lebenssituation voranbringen können. Im Mittelpunkt steht ebenfalls das “Empowerment” der Klient*innen, die gestärkt werden und selbst aktiv werden sollen. Grundsätzliche Voraussetzung bei all diesen Tätigkeiten ist, bis auf ganz wenige Handlungsfelder, die Freiwilligkeit und Zustimmung der Klient*innen, Transparenz im Verfahren ist ebenso grundsätzlich.
Von der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management (DGCC) gibt es Leitlinien und ethische Grundlagen. Das ist die Ausgangslage, wenn wir über fachlich qualifiziertes Case Management in Deutschland sprechen. Adressat*innenorientierung, Ganzheitlichkeit, Empowerment, nicht nur ausschließlich professionelle Leistungen zu vermitteln, sondern zunächst auch zu schauen, welche Ressourcen im Umfeld vorhanden sind und einbezogen werden können.
Wann ist Case Management erforderlich?
Wenn Menschen sich in einer komplexen Problemlage befinden, die mehrere Beteiligte zur Überwindung erfordert, und sie aktuell nicht mehr oder noch nicht in der Lage sind, diese mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen selbständig zu überwinden. Es geht nicht nur darum, dass eine Person ein einzelnes Problem hat, das durch eine Beratung schnell gelöst werden kann. Es geht darum, dass mehrere schwierige Fragen zusammenkommen und viele Beteiligte unterstützen müssen, um die Lage abzumildern oder zu überwinden. Es geht dabei somit auch um (temporär) fehlende Ressourcen und fehlende Versorgungspfade, die auf die entsprechende individuelle Situation passen.
Ein Beispiel aus dem kommunalen Integrationsmanagement: Hier handelt es sich überwiegend um Menschen, die allein aus anderen Ländern einreisen, die deutsche Sprache in der Regel noch nicht können, aus einem anderen Kulturkreis kommen, noch keine Wohnung und keine Arbeit haben, sowie keine oder schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht haben. Wenn jemand in dieser Situation nichts über die Strukturen in Deutschland weiß und nichts darüber, wohin man sich wenden kann – dann kann sich daraus eine sehr komplexe Problemlage, die die Person nicht so einfach selbständig lösen kann und in der, zumindest zeitlich befristet, eine gewisse Unterstützung nötig ist. In einem ersten Klärungsgespräch könnte Menschen, die in einer Kommune ankommen, Case Management angeboten werden. Dies bedeutet wiederum noch lange nicht, dass all diese Menschen tatsächlich Case Management benötigen. Manche werden über private Unterstützung oder nur mit wenig professioneller Informationsgabe seitens Behörden oder Beratungsstellen sehr gut in der Lage sein, all die nötigen Wege zu bewältigen.
Mit welchem Ansatz können Case Manager*innen unterstützen?
Bei komplexen Problemen und nicht ausreichenden Ressourcen ist es hilfreich, mit der*dem Case Manager*in eine feste Person an der Seite zu haben, mit der sich im Idealfall ein Vertrauensverhältnis aufbaut. Case Manager*innen können ihre Klient*innen durch die behördlichen und gesellschaftlichen Strukturen in Deutschland navigieren. Aufgabe von Case Management ist es, die Menschen darüber aufzuklären, welche Möglichkeiten es gibt, den Weg bei Bedarf mitzugehen und je nach individuellen Ressourcen unterschiedlich intensiv dabei zu unterstützen – aber auch, Erwartungen mit Ehrlichkeit zu begrenzen.
Zur Person
Case Managerin und Case Management-Ausbilderin (DGCC) Denise Lehmann hat gemeinsam mit der Paritätischen Akademie NRW das Handbuch „Case Management im kommunalen Integrationsmanagement“ veröffentlicht. Das Handbuch wurde im Rahmen des Modellprogramms „Einwanderung gestalten NRW“ entwickelt und kann am Ende dieses Artikels heruntergeladen werden. Denise Lehmann gibt ebenfalls Seminare bei der Paritätischen Akademie NRW zum Thema. Sie ist Autorin des Fachbuchs „Implementierung und Entwicklung von Case Management“.
Wie bekommen Case Manager*innen selbst einen Überblick über die vorhandenen Angebote, um diese an ihre Klient*innen weiterzugeben?
Menschen, die eine Weiterbildung zur*zum Case Manager*in machen, haben bereits einiges Vorwissen. Sie haben zum Beispiel schon vorher ein Studium der Sozialen Arbeit oder eine Ausbildung im sozialen Bereich absolviert. Viele Kompetenzen sind also schon vorhanden, die in der Weiterbildung noch einmal geschärft werden.
Offenheit und der Wille, sich mit anderen zu vernetzen und auf mögliche Kooperationspartner*innen zuzugehen, sind außerdem notwendig. Case Manager*innen teilen Wissen, tauschen sich im Team aus und halten sich über Fortbildungen, Newsletter, Literatur über ihr Handlungsfeld auf dem Laufenden. Die Aufgabe ist in jeder Hinsicht sehr kommunikativ.
Wie behält man den Überblick, wenn immer wieder und über einen längeren Zeitraum an einem Fall gearbeitet wird?
Grundsätzlich sind eine gut geführte Dokumentation und ein umfassendes Wiedervorlagesystem sehr wichtig. Transparenz ist ebenso entscheidend – jedes Vorgehen muss mit den Klient*innen abgestimmt werden, auch um die Vertrauensbasis zu erhalten bzw. auszubauen. Die Kernfrage ist, welche Ziele umgesetzt werden sollen. Diese werden in Teilziele und konkreten Maßnahmen umgesetzt. Dazu gibt es verschiedene Systeme und auch Software, die für die nächsten Schritte genutzt werden können.
Dies klingt erst einmal leicht, in der Praxis ist dies aber keinesfalls so einfach: Wenn Ziele nicht erreicht werden, kann dies eine sehr demotivierende Wirkung zur Folge haben. Daher ist es sehr wichtig, realistische Ziele zu entwickeln. Mitunter müssen diese regelrecht ausgehandelt werden – innerhalb eines Familiensystems oder auch unter Einbeziehung verschiedener, relevanter Kostenträger. Auch hierfür werden Kompetenzen für den konkreten Umgang mit diesen Herausforderungen im Rahmen einer Weiterbildung vermittelt und reflektiert.
Was sind Fallkonferenzen?
Fallkonferenzen sind Instrumente, die im Case Management in fast jeder Phase angewendet werden können. Ganz allgemein bedeutet es, dass verschiedene beteiligte Personen oder Vertreter*innen unterschiedlicher Organisationen zusammenkommen, um sich zu einem Fall abzustimmen. Mitunter gibt es unterschiedliche Auffassungen davon, was erreicht werden soll – teils zwischen den Vertreter*innen der Organisationen und der Person, aber auch zum Beispiel innerhalb der betroffenen Familien. Dann macht es Sinn, sich an einen Tisch zu setzen und einen gemeinsamen Nenner zu finden. Im Mittelpunkt müssen auch hier die Adressat*innen stehen. Dass dies konsequent beachtet wird und gelingt, stellt eine weitere Herausforderung des Case Management dar.
Die Organisation, Vor- und Nachbereitung sowie Durchführung einer Fallkonferenz bedeutet einen hohen Zeitaufwand. Wenn dies aber gut gelingt, auch hier spielen wieder mehrere Kompetenzen auf Seiten der Case Manager*innen eine bedeutende Rolle, können dadurch viel Mehrarbeit verhindert, Reibungsverluste und Frustration abgefangen werden. Die Moderation übernehmen in der Regel die Case Manager*innen, die ebenfalls darauf achten, dass die Interessen der Klient*innen gewahrt werden. Es darf nicht passieren, dass die Fallkonferenz zu einer Art Tribunal wird.
Sie haben zusammen mit der Paritätischen Akademie das Handbuch “Case Management im kommunalen Integrationsmanagement” geschrieben und veröffentlicht. In den zugrundeliegenden Schulungsmodulen wurde die Case-Management-Ausbildung erstmals mit Schulungsinhalten aus dem Themenfeld interkulturelle Öffnung (IKÖ) verknüpft. Was ist der Hintergrund?
Das Handbuch ist an Entscheider*innen im kommunalen Integrationsmanagement gerichtet, aber auch an deren Mitarbeiter*innen, die Interesse an einer Weiterbildung zur*zum Case Manager*in haben und sich einen Überblick verschaffen wollen. Die Haltungen in der IKÖ und im Case Management haben viele Überschneidungspunkte. Es ist gerade im kommunalen Integrationsmanagement sinnvoll, dass Mitarbeiter*innen in den Kommunen auch für interkulturelle Aspekte und Diversität sensibilisiert sind. Es besteht ansonsten die Gefahr, dass gesagt wird: “Ich weiß, was jemand braucht, die*der eingewandert ist, weil ich schon solche Menschen betreut habe”. Im Case Management gilt der Anspruch, jeden Fall neu zu bewerten, und routinierte Denkmuster in Frage zu stellen. Es ist deshalb wichtig, die Lebenssituation der Klient*innen individuell und ganzheitlich zu betrachten.
Modulhandbuch zum Download
Artikelfoto: New Africa/Adobe Stock
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