Frühpädagogik sollte in den ersten Jahren keinen Leistungsdruck erzeugen – weder bei den Kindern, noch bei den Fachkräften in der Kita. Das wünscht sich Autorin Nora Imlau, die den Begriff des “gefühlsstarken Kindes” entwickelt hat, in unserem Interview.
Nora Imlau, was ist eigentlich ein “gefühlsstarkes Kind”?
Zunächst einmal ist es keine medizinische Diagnose oder ein Fachbegriff aus der Psychologie. Ich habe diesen Begriff für Kinder entwickelt, die uns mit ihrem intensiven Verhalten fordern. Kinder haben unterschiedliche Charakterzüge, Temperamente und Persönlichkeiten. Es gibt ein breites Spektrum von braven, sehr leicht zu führenden Kindern, bis hin zu willensstarken, wütenden, wilden, aber auch sensiblen und verletzlichen Kindern. Diese Kinder, die von jedem Gefühl nur die extreme Variante zu kennen scheinen, das sind die gefühlsstarken Kinder, von denen ich spreche. Bei dem Begriff “gefühlsstark” wollte ich den Fokus bewusst darauf legen, dass diese Gefühle auch eine Stärke sind. Es ist wichtig, diese Kinder nicht mit Kindern zu verwechseln, die Traumata nicht verarbeitet haben.

Wie zeigt sich diese Gefühlsstärke im Alltag?
Entscheidend ist, dass nicht nur negative Emotionen eine Rolle spielen. Ein gefühlsstarkes Kind bereichert das Leben einer Familie und ihrer Umgebung. Diese Kinder können überbordend fröhlich, leidenschaftlich und voller Liebe sein. Sie befinden sich auf einer ständigen Achterbahnfahrt: “mittelzufrieden” sind diese Kinder eher selten.
Gefühlsstarke Kinder fallen oft von Geburt an auf – sie finden schwer in den Schlaf, sind nähebedürftig und sehr hartnäckig. Sie sind interessiert und leidenschaftlich, haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und möchten dafür sorgen, dass es auch anderen Menschen gut geht. Sie sind neugierige und empathische Kinder, die große Fragen stellen, mit denen man gut philosophieren kann.
Gleichzeitig reagieren sie ebenfalls sehr stark darauf, wenn Dinge nicht so laufen, wie sie es möchten. In solchen Situationen zeigen sie extreme Reaktionen und sind kaum zu beruhigen. Das bleibt selbst nach der Autonomiephase im frühen Schulalter so – zum Beispiel, wenn sie über ihren Hausaufgaben weinend zusammenbrechen, weil sie alles als zu viel empfinden, oder wütend werden, wenn jemand sie nicht mitspielen lässt. Dieses Auf und Ab kann gefühlsstarke Kinder sehr anstrengen, weil sie oftmals selbst feststellen, dass sie ihr Umfeld fordern, obwohl sie das gar nicht möchten. Deshalb sind Strategien und Werkzeuge wichtig, wie alle mit dieser Situation umgehen können.
Was können pädagogische Fachkräfte tun, um diese Kinder im Kita-Alltag zu begleiten?
Es ist eine Herausforderung, ein gefühlsstarkes Kind in einer Kita-Gruppe zu haben. Sie tun sich manchmal schwer mit Übergängen in neue Situationen und wirken ein bisschen wie Sand im Getriebe. Es ist wichtig zu verstehen, dass eine scheinbare Verweigerung nicht mit purem Trotz zu tun hat, den man mit einem Machtkampf brechen muss. Gefühlsstarke Kinder sind oft einfach überreizt. Wenn zu viel auf sie einströmt, wird es ihnen zu viel, und sie geraten in eine Art Freeze-Zustand. In diesem Moment hilft es nicht, noch mehr Stress zu erzeugen. Dieses Wissen kann zu einem Umdenken führen: das Kind braucht in diesem Moment eine Hilfestellung. Manchmal hilft es schlicht, das Kind aus dem Trubel herauszunehmen, damit es sich beruhigt. Beim Anziehen zum Beispiel kann sich das Kind hinsetzen und abwarten, bis alle anderen fertig sind, und dann Hilfe bekommen. Natürlich ist das in vielen wuseligen Situationen schwierig – wenn das Kind aber wahrnimmt, dass ein anderer Mensch es versteht, geht es viel häufiger in die Kooperation als in die Konfrontation.
Zur Person
Nora Imlau ist Journalistin, Sachbuchautorin, Speakerin, Moderatorin und Universitätsdozentin. Sie hält Vorträge und Lesungen auf Fachkongressen und Veranstaltungen im Bereich der Familienbildung. Auf ihrem Blog finden sich zahlreiche Artikel über Bindung und Beziehung im Familienleben. Im Rahmen der Impulsreihe „Zurück zum Kind“ der Paritätischen Akademie NRW hält sie am 13. Dezember 2023 einen Vortrag mit Austausch zum Thema “Gefühlsstarke Kinder beim Großwerden begleiten”.
Die neue Impulsreihe „Gemeinsam durch den Sturm“ der Paritätischen Akademie NRW für pädagogische Fachkräfte startet im Januar.
Was können Fachkräfte tun, um in solchen herausfordernden Situationen professionell handeln zu können?
Insbesondere in sozialen Berufen ist es ein Problem, dass Fachkräfte viel von sich verlangen und ihre Bedürfnisse zum Vorteil der äußeren Anforderungen in den Hintergrund stellen. Eins oder mehrere gefühlsstarke Kinder zu begleiten ist wie ein Langstreckenlauf. Viel Kraft und Geduld kann man nur aufbringen, wenn ein gesunder Selbstschutz stattfindet. Selbst wenn Kinder permanent fordern, muss ich als pädagogische Fachkraft Grenzen wahren, ohne das Kind dafür zu beschämen oder zu bestrafen. Ein Beispel: Ein Kind möchte in der Mittagsruhe, dass ein*e Erzieher*in ausschließlich bei ihm ist. Nun kann man dem Kind spiegeln, dass das ein legitimer Wunsch ist, der aber nicht geleistet werden kann.
Ein Kompromiss kann helfen: zum Beispiel, so lange beim Kind zu sein, bis es eingeschlafen ist, und wieder da zu sein, wenn es aufgewacht ist. Wenn das Kind anfängt zu weinen oder zu schreien, ist es wichtig, dem Kind ruhig zu sagen, dass die Reaktion nachvollziehbar ist, aber trotzdem bei seinen eigenen Grenzen zu bleiben. Sonst ist irgendwann von einem selbst nichts mehr übrig. Die Kinder entwickeln ihre Frustrationstoleranz dadurch übrigens Schritt für Schritt weiter. In einfachen Situationen kann man das sogar mit den Kindern üben – zum Beispiel selbstständiges Anziehen, wenn gerade kein dringender Termin ansteht.
Ist der Druck, gefühlsstarke Kinder gezielt zu unterstützen, in den letzten Jahren noch größer geworden?
Gefühlsstarke Kinder gab es schon immer. Über viele Jahrzehnte wurden diese Kinder in unserer Erziehungskultur ziemlich früh gebrochen. Dafür gab es früher gar keinen Raum. Wir haben heute viel stärker das Bewusstsein, dass jedes Kind ein eigenes Individuum ist. Pädagogische Fachkräfte empfinden es immer weniger als ihren Job, alle Kinder in eine Schablone zu pressen. Gleichzeitig entwickelt sich die Frühpädagogik immer mehr in Richtung einer schulvorbereitenden, leistungsorientierten Bildungsform. Dieser Druck wird an die Fachkräfte weitergereicht. Bei diesen entsteht dann der Eindruck, sie müssen eher einen Bildungsplan durchziehen, anstatt sich um die Frustrationstoleranz eines einzelnen Kindes zu kümmern.
Mein Wunsch wäre es, dass der Fokus zunächst auf der Bindung anstatt auf der Bildung liegt. In den ersten drei Jahren müssen Kinder noch keine Zahlen kennen, das nehmen sie im Alltag mit. Sie brauchen Kitas, in denen Raum ist für Bindungserfahrung, Zugewandtheit, Verlässlichkeit und Geduld der pädagogischen Fachkraft.
Artikelfoto: AstralAngel/Adobe Stock
Kommentar
Guten Tag, mein Enkel ist 17 Monate alt und zeigt all die von Ihnen genannten Merkmale eines gefühlsstarken Kindes.
Die Eltern sind sich dessen bewusst und geben ihr Bestes um ihren Sohn zu unterstützen.
Ich als Großmutter möchte das natürlich auch. Deshalb kommuniziere wir, wie ich mich meinem Enkel gegenüber am Besten verhalten soll.
Leider verunsichert mich das ziemlich, sodass ich oft nicht weiß: ist das jetzt gut für den Kleinen oder nicht. Die Spontanität , die Leuchtugkeit geht verloren. Ich fühl mich nicht gut damit.
Hinzu kommt, dass ich meinen Enkel nicht so oft sehe ( wohnen weiter weg),
Also irgendwie immer wieder von vorne anfange.
Können Sie mir einen Tipp geben, was ich unterstützend beitragen kann.
Vielen Dank.
Schönen Gruß Claudia Leippert