Das Thema psychosexuelle Entwicklung ist in vielen Einrichtungen noch ein Tabu-Thema. Diplom-Psychologin Helga Tolle erklärt im Interview, warum es wichtig ist, die Entwicklung der Kinder professionell zu begleiten.
Frau Tolle, warum ist die psychosexuelle Entwicklung bei Kindern ein so sensibles Thema bei Fachkräften in der Kita?
Zunächst einmal ist das Wort Sexualität etwas, das viele Menschen erst mit Jugendlichen und Erwachsenen verbinden – alles, was vorher stattfindet, wird häufig als nicht ernstzunehmende Sexualität abgetan, die nicht pädagogisch aufgegriffen und nicht beachtet werden solle. Kita-Fachkräfte offenbaren Berührungsängste gegenüber dem Thema und es fallen Aussagen wie “Gottseidank haben wir damit nichts zu tun”. Das halte ich für einen falschen Ansatz. Der zweite Punkt ist die Berichterstattung über Kindheit und Sexualität. Eltern befürchten, dass Wissen und Gespräche über Sexualität von Kindern eher schadet. Auch hier muss ich widersprechen.
“Die Grenzen, die im Kindesalter gesetzt werden, sind extrem wichtig für die Sexualität im Erwachsenenleben.”
Helga Tolle
Warum ist es wichtig, dass Fachkräfte in der Kita für dieses Thema professionalisiert werden?
Die psychosexuelle Begleitung zielt auf die Förderung des Kindes ab, die kindlich-sexuellen Entwicklungsprozesse stehen im Vordergrund, nicht die Erwachsenensexualität. Diesen spezifischen sexuellen Aspekt der frühen Bildung zu berücksichtigen, ist eine wichtige Aufgabe von Erzieher*innen. Kinder sind von Anfang an sexuelle Wesen. Sie genießen es, gehalten, gestreichelt und liebkost zu werden, sie erleben dabei körperliches und seelisches Wohlbefinden. Diese Bedürfnisse zu befriedigen, ist Aufgabe von Erwachsenen – von Beginn an.
Die Kita ist ein Ort, an dem Kinder Beziehungen und Freundschaften erleben, Gefühle austauschen, psychische und körperliche Nähe und Distanz einüben, mit Grenzen und Regeln konfrontiert sind. Dieser Abschnitt der psychosexuellen Entwicklung legt die Basis für das gesamte Leben. Er ist zum Beispiel bedeutsam dafür, welchen Bezug das Kind zum eigenen Körper bekommt: Mag ich meinen Körper? Wie gehe ich mit meinem Körper um? Was spüre ich?
Die sexuelle Entwicklung zu fördern bedeutet auch, Grenzen zu setzen. Die Kinder können lernen, achtsam mit ihrer Körperlichkeit und der anderer Menschen umzugehen. Die Grenzen, die im Kindesalter gesetzt werden, sind wichtig für die Sexualität im Erwachsenenleben.
Was ist schwierig für Fachkräfte in der Kita, wenn sie im Alltag mit entsprechenden Situationen konfrontiert werden?
Für Fachkräfte ist es wichtig, eigenes „sexuelles Großwerden“ zu reflektieren, sich mit eigenen sexuellen Werten und Einstellungen zu beschäftigen. Dieses Bewusstsein über sich selbst und die eigene Haltung haben einen entscheidenden Einfluss darauf, wie Erzieher*innen auf kindlich-sexuelles Handeln reagieren, wie zum Beispiel, wenn Kinder Geschlechtsverkehr nachspielen.
Als weitere wichtige Maßnahme sollten die Leitung und das Team der Kita vereinbaren, wie mit entsprechenden Situationen umgegangen wird. Hier ist wichtig, ein Konzepten zum Thema Sexualität zu entwickeln, so dass es stringente Leitlinien für alle Mitarbeiter*innen gibt. Das verhindert Verunsicherung im Team und bei den Kindern.
Und schließlich ist die Zusammenarbeit mit den Eltern besonders wichtig. Sie müssen frühzeitig eingebunden werden. Ängste und Sorgen der Eltern müssen ernst genommen, aufgegriffen und gemeinsam bearbeitet werden. Auch hier gilt: Klarheit und Sicherheit entstehen durch Teamabsprachen und professionelle Kommunikation mit Eltern.
Wie sollte zum Beispiel mit dem Thema „Ausziehen“ umgegangen werden?
Da sollte es in der Einrichtung eine klare Richtlinie geben. Wenn das Gelände oder die Räume von außen einsehbar sind, sollte zum Schutz der Kinder die Regel gelten, dass alle immer bekleidet sein müssen. Klare Regeln geben dem Team und den Eltern Sicherheit im Handeln.
Und wenn Kinder etwas Überraschendes tun, was ja nicht selten vorkommt?
Das passiert zum Beispiel, wenn zwei Kinder sich zurückziehen und ihre Körper betrachten, vergleichen und berühren. Das ist ein sehr typisches Verhalten und als völlig normal einzustufen. Im Miteinander mit den Eltern muss dies geklärt sein. Ansonsten könnte es sein, dass sie nachvollziehbar besorgt oder empört reagieren, weil sie die Situation als gefährlich einstufen oder als mangelnde Kontrolle der Mitarbeiter*innen interpretieren.
Wie können die Fachkräfte darauf reagieren?
Es ist wichtig, zuerst einmal die Situation zu beurteilen und zu entscheiden, ob ein Eingreifen erforderlich ist. Eine richtige Reaktion ist es, mit den Kindern zu sprechen und ggf., abhängig von der gegebenen Situation, deutlich machen, was geht und was nicht – ohne Schuld zuzuschieben. Hier wird deutlich, wie hilfreich ein gemeinsames, mit den Eltern abgestimmtes Konzept gibt. Es gehört zum Alltag der Kita, dass nicht alle Situationen kontrollierbar sind und Kinder auch beobachtungsfreie Nischen/Räume brauchen.
Gibt es fachliche Standards zur psychosexuellen Arbeit in Kitas? Es gibt Leitlinien (Kinderbildungsgesetz, Bildungsgrundsätze in Kindertagesbetreuung in NRW) zur sexuellen Bildung, an denen sich Kitas orientieren sollten. Die Bildungslandschaft zeigt allerdings, dass die Umsetzung von Sexualpädagogik in den Einrichtungen sehr unterschiedlich ist und viele gute Ansätze, Ressourcen und Kapazitäten fehlen. Hier ist es wünschenswert, dass Freiräume geschaffen werden, die es den Leitungen und Fachkräften ermöglichen, sich diesem Thema intensiver als bisher zuzuwenden. Insgesamt muss Sexualpädagogik eine stärkere Rolle in der Kitapädagogik einnehmen und einen viel bedeutenderen Standort bekommen.
Qualifizierung im Blended-Learning-Format
Die Paritätische Akademie NRW bietet die Qualifizierung “Fachkraft für psychosexuelle Entwicklung” mit Dozentin Helga Tolle an. Wie dieses Thema im Blended-Learning-Format als Weiterbildung funktioniert, beschreibt Bildungsreferentin Marina Kürzinger.
Frau Kürzinger, wie bringt man ein Thema, das viele Menschen für sensibel halten, in eine berufliche Weiterbildung ein?
Wie bei jeder Weiterbildung geht es auch hier darum, sich mit Hilfe von enger Begleitung und kollegialem Austausch persönlich und für den beruflichen Alltag weiterzuentwickeln. In diesem Fall wird der Kurs im Blended-Learning-Format angeboten. Bei dem ersten Modul handelt es sich um ein digitales Format. Modul 2 bis 4 sind dann als Präsenzveranstaltung geplant. Thematisch ist es wichtig, die Teilnehmenden eng zu begleiten. Daher wurde für diesen Kurs ein E-Learning entwickelt, das die Teilnehmenden neben den digitalen sowie Präsenzterminen begleitet. Nach einem Theoretischen Input folgen unterschiedliche Arbeitsaufträge, die eng mit der praktischen Arbeit der Teilnehmenden verknüpft sind. So sollen die Teilnehmenden schon während des Kurses eine Unterstützung in ihrem Alltag erfahren. Der kollegiale Austausch, Handlungsimpulse und das Besprechen von Fallbeispielen soll den Teilnehmenden dabei helfen, wie sie mit Situationen umgehen können, die sie womöglich noch nicht selbst erlebt haben. Dadurch fühlen sie sich gewappnet und handlungsfähig.
Wie nehmen die Teilnehmer*innen das Gelernte mit in die Praxis?
Sie bringen sich und ihre Erlebnisse nicht nur in das Seminar ein, sondern üben bestimmte, konkrete Situationen miteinander. Ein Beispiel dafür sind Elterngespräche, die als Rollenspiele geübt werden. In einem “Markt der Ideen” stellen die Teilnehmenden Projekte vor, welche sie über einen länger geplanten Zeitraum in ihrem Kita-Alltag geplant und umgesetzt haben. Sie tauschen Methoden aus, wie sie mit herausfordernden Situationen umgehen können. Sie können die neu gewonnenen Lösungsansätze unmittelbar in ihrer Arbeitspraxis einbringen und ausprobieren.
Ist es bei diesem speziellen Thema ein Vorteil oder ein Nachteil, dass Teile der Weiterbildung digital und in Präsenz stattfinden?
Wir sehen es als eine Bereicherung an, da wir durch die Kombination von digitalen Einheiten und Präsenzveranstaltungen, unterschiedliche Persönlichkeiten ansprechen und verschiedene Kommunikationsmethoden ihren Platz finden. Der zusätzliche E-Learning-Kurs begleitet die Teilnehmenden während des gesamten Kurses, liefert zusätzlichen theoretischen Input, greift Inhalte aus den einzelnen Modulen auf und vertieft diese durch Übungen und weitere Arbeitsaufträge. Teilnehmende können sich das Fachwissen auf der einen Seite eigenständig aneignen, erfahren aber durch die Online- und Präsenztermine eine enge Begleitung, kollegialen Austausch sowie Reflexionsmöglichkeiten. Natürlich kommen ebenso die zeitlichen Vorteile, wie beispielsweise das Wegfallen des Anfahrtsweges sowie die flexible Bearbeitung des E-Learnings hinzu.
Artikelfoto: Adobe Stock/sp4764
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