Dr. Margareta Müller ist beim Landesverband NRW des Deutschen Kinderschutzbundes in Wuppertal aktiv. Sie verantwortet die Fachberatung gegen Gewalt gegen Kinder, Vernachlässigung und sexuellen Missbrauch. Im Interview spricht sie über Kinderrechte.
Frau Müller, wären Sie bei Ihrem Job nicht eigentlich froh, arbeitslos zu sein, wenn Kinder in Deutschland keine schlimmen Probleme mehr hätten?
Wenn man den Aspekt der Prävention sieht, kann man die Stelle trotzdem nicht streichen. Prävention ist immer erforderlich. Natürlich wäre es schön, wenn es keine Kinderschutzfälle mehr gäbe. Aber ich denke, das ist unrealistisch. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema sowohl in der Theorie als auch mit Handlungsstrategien für die Praxis wird leider immer notwendig sein.
Wie ist denn die Situation der Kinder in Deutschland?
Pauschal kann man das nicht beantworten. Man kann weder sagen, ihnen geht es gut oder schlecht. Da muss man sich verschiedene Bereiche und Studien anschauen, zum Beispiel das LBS Kinderbarometer, die KIGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen oder den Kinderreport vom Kinderhilfswerk. Dort wird deutlich, dass es kein einheitliches Bild davon gibt, wie es Kindern grundsätzlich geht. Was man sagen kann, ist: Welche Chancen Kinder haben, hängt nach wie vor stark von ihrer Herkunft ab.
Das meinen Sie jetzt nicht unbedingt bezogen auf ihre Heimat, sondern vor allem auf ihren sozialen Hintergrund.
Genau. Es betrifft, ob ein Kind aus einer bildungsfernen Familie kommt oder aus einer Familie, in der viel Wert auf Bildung gelegt wird. Das betrifft aber auch die finanziellen Verhältnisse. Wir haben in Deutschland selbst heute noch 20 Prozent Kinderarmut, was den Stand der Lebensqualität und die Entwicklungschancen von Kindern massiv beeinflusst. Darunter leidet auch ihre Mitbestimmung.
Das Recht auf Bildung ist ein Teil der UN-Kinderrechtskonvention. Wenn Sie einmal vergleichen, was dort steht und was wir umsetzen – was würden Sie verbessern?
Wie bereits angedeutet haben wir keine gleichen Bildungschancen für alle. Dazu gehört zum Beispiel, Lernmittelfreiheit für alle zu schaffen, damit auch Familien ohne große finanziellen Ressourcen entsprechende Schulmaterialien und angemessene Ausstattung anschaffen können. Dafür sollten sie auch nicht immer entsprechende Anträge stellen müssen, wie sie im Bildungs- und Teilhabepaket auch nur von einem sehr geringen Teil der Bevölkerung genutzt werden, weil ein Antrag eine zusätzliche Hürde darstellt.
Ein weiteres Thema ist Schulabsentismus. Viele Kinder in Deutschland gehen nicht regelmäßig zur Schule. Es gibt Kinder, die gemobbt wurden und sich nicht mehr trauen, die Schulängste oder seelische Erkrankungen haben und entsprechende Unterstützung brauchen. Geflüchtete Kinder in Erstaufnahmeeinrichtungen und Landesunterkünften erhalten in den ersten Monaten keine Regelbeschulung. Bei bestimmten Gruppen geflüchteter Kinder verlängert sich der Zeitraum ohne Regelbeschulung sogar. Dazu kommen Kinder und Jugendliche, die schlichtweg die Schule schwänzen. Wir haben also einerseits das Recht auf Bildung, und andererseits eine Gruppe von Kindern, die nicht zur Schule gehen.
Im Bereich Inklusion brauchen die Schulen entsprechende Ausstattung: personelle Ressourcen, eine sachliche Ausstattung und entsprechende Räume. Das ist auch noch nicht hundertprozentig umgesetzt. Da gibt es alleine schon daraus einen Bedarf, dass wir einen Lehrer*innen- bzw. Fachkräftemangel in diesem Bereich haben. Viele Stellen sind einfach nicht besetzt. Die Ausbildung neuer Fachkräfte kann nicht von heute auf morgen geschehen, weshalb Lücken oft durch Quereinsteiger geschlossen werden.
Leider sind vielen Fachkräfte die Kinderrechte in ihrer alltäglichen Arbeit auch nicht so sehr präsent – das stellen wir immer wieder in Schulungen fest. Daraus ergibt sich ein Bildungsauftrag für die Fachkräfte, sich auszukennen, um Kindern und Jugendlichen gezielt helfen zu können.
Möglichkeiten zur Beteiligung und zur Beschwerde sind ebenfalls wichtige Rechte aus der UN-Konvention. Zum einen ist die Mitbestimmung von Kindern in der Familie auch schon im Bürgerlichen Gesetzbuch angelegt – es soll gemeinsam mit Kindern besprochen werden, was in der Familie geschieht. Zum anderen gibt es Beteiligungsrechte in der Kinder- und Jugendhilfe, verankert im Sozialgesetzbuch. Die Praxis und die Forschung zeigen aber leider, dass gerade diese Beteiligungsrechte sehr defizitär umgesetzt werden.
Wann beteiligt eine Familie ihre Kinder richtig?
Beteiligung heißt, dass Erwachsene nicht über die Köpfe der Kinder und Jugendlichen hinweg alles bestimmen. Im Idealfall heißt das, ihre Wünsche anzuhören und gemeinsam zu entscheiden, so dass alle Interessen ernst genommen werden – wie zum Beispiel bei einer Absprache des Sommerurlaubs. Wichtig ist, dass es überhaupt eine freie Auswahl gibt und ich mir als Kind aussuchen kann, was ich mir anziehe, mit welchen Freund*innen ich mich verabrede, wie ich die eigene Freizeit gestalte und so weiter.
Wie gelingt es, Kinder mehr einzubinden?
Die UN-Konvention müsste schlicht und ergreifend umgesetzt werden. Wir müssen hier unterscheiden zwischen Beteiligung und Teilhabe. Wenn Kindern die Teilhabe an etwas ermöglicht wird, heißt das noch nicht, dass sie auch die Möglichkeit haben, etwas zu gestalten. Es gibt unterschiedliche Formen und Grade der Beteiligung. Beispiele dafür sind der Schulunterricht, der eher beteiligungsfern gestaltet wird, Kinder- und Jugendparlamente mit der Möglichkeit zur Mitbestimmung, bis hin zum privaten und familiären Bereich, in dem es durchaus mehr Selbstbestimmung gibt.
Leider wird zu oft nicht umgesetzt, was Kinder sagen. Das Beteiligungsrecht wird nicht wirklich ernst genommen. Beteiligung macht so aber keinen Sinn. Kinder bleiben nur dabei, wenn ihre Mitarbeit eine Wirkung hat. Sonst verlieren sie das Interesse. Dafür ist es grundlegend, dass Beteiligungsrechte gesetzlich verankert sind und in den entsprechenden Organisationen oder Einrichtungen institutionalisiert werden. Es muss klare Regeln dafür geben, wie Vorschläge von Kindern und Jugendlichen aufgenommen werden.
Eine Aktion wie “Fridays for Future” gegen den Klimawandel zeigt das hohe Engagement der Jugendlichen für ihre Lebensumwelt. Trotzdem sollen Jugendliche mit Verweis auf das System Schule daran gehindert werden, Engagement zu zeigen. Dabei lernen Kinder und Jugendliche durch solche Aktionen, Konflikte auszutragen und Verantwortung zu übernehmen. Das ist eine starke Form des Empowerments und demokratischen Handelns.
Ein wichtiges Kinder- und Menschenrecht ist es, körperlich unversehrt zu bleiben.
Die Polizeistatistik sagt, dass in Deutschland im Jahr 2017 mehr als 20.000 Kinder und Jugendliche sexuellen Missbrauch erleiden mussten – die Dunkelziffer ist wesentlich größer. Man geht von rund einer Millionen Opfern aus. Eine erschreckende Zahl. Die Initiative „Kein Raum für Missbrauch“ ist ein Beispiel dafür, mehr sichere Orte für Kinder zu schaffen. Es ist wichtig, dass Einrichtungen Schutzkonzepte für Kinder- und Jugendliche entwickeln.
Solche Konzepte werden auch vom Kinderschutzbund mit erstellt?
Ja. Wir arbeiten sowohl auf politischer Ebene, als auch mit verschiedenen Organisationen zusammen, zum Beispiel dem Landessportbund oder dem Bundesforum Kinder- und Jugendreisen. Es gibt aber auch Anfragen von Schulen. In Folge der Vorkommnisse in Lügde gab es zuletzt ein Arbeitstreffen von Expert*innen im Landtag. Es ging darum, was Nordrhein-Westfalen braucht, um Kinder vor sexualisierter Gewalt zu schützen.
Wie können Kinder ihre Rechte durchsetzen?
Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Beratung – auch ohne Teilnahme der Eltern. Am häufigsten bekommen sie Hilfe, indem sie Personen aus ihrem nahen Umfeld um Rat bitten, denen sie vertrauen. Wenn Jugendliche unzufrieden sind, helfen sie sich häufig auch durch Recherche im Internet und finden Anlaufstellen. Das können aber nicht alle Kinder. Sie brauchen Unterstützung. In den Einrichtungen muss es deshalb Gremien und Verfahren geben, die Kindern bei Problemen helfen. Die Ombudsstellen in Deutschland sind ebenfalls eine gute Stelle. Sie setzen Kinderrechte in erster Linie gegenüber dem Jugendamt oder Einrichtungen durch.
Der Deutsche Kinderschutzbund
Der DKSB setzt sich für die Rechte von Kindern ein. Er kämpft dafür, dass die Politik kinderfreundliche Entscheidungen trifft. Gleichzeitig hilft und berät er Kinder und Eltern bei Problemen und versucht, die Lebensbedingungen von Kindern zu verbessern. Mehr Infos auf der Webseite des Landesverbandes mit Sitz in Wuppertal: www.kinderschutzbund-nrw.de
Artikelfoto: Fotolia/Robert Kneschke
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