Studierende helfen Menschen mit Behinderungen und dürfen dafür quasi umsonst in der Hausgemeinschaft wohnen: Mit diesem Konzept hat der inklusiv wohnen Köln e.V. gute Erfahrungen gemacht, berichtet Geschäftsführerin Christiane Strohecker im Interview.
Frau Strohecker, woraus ist die Idee entstanden, ein inklusives Wohnprojekt in Köln zu gründen?
Wir sind eine Elterninitiative und die Idee ist aus der Selbsthilfe entstanden. Ich bin Mutter einer schwer mehrfachbehinderten Tochter, eine Freundin von mir – Michaela Mucke – hat ebenfalls eine Tochter mit schwerer Mehrfachbehinderung. Die Tochter von Frau Mucke lebte damals in einem Wohnheim, aber die beiden waren unzufrieden mit der Wohnsituation. Meine Tochter war im Internat und es bestand keine Aussicht, irgendwo einen Wohnplatz im Kölner Raum für eine schwer-mehrfachbehinderte junge Frau nach der Schulzeit zu finden.
Wir haben uns dann zusammengesetzt und überlegt, wie wir mit dieser Unzufriedenheit und dem Mangel an Wohnplätzen umgehen können. Frau Mucke und ich hatten jahrelang Unterstützung von Studenten vom Familienentlastenden Dienst bekommen, die am Wochenende bei der Betreuung und Pflege unserer Kinder geholfen haben. Dieses System wollten wir in die Erwachsenenwelt unserer Kinder transportieren und haben uns das Projekt ausgedacht – sozusagen am Küchentisch.
Wie lange hat es gedauert von der ersten Idee bis zum Einzug?
Es waren insgesamt fünf Jahre. Wir haben zunächst ein Jahr nur zu zweit an der Idee gearbeitet und dann den Verein inklusiv wohnen Köln zusammen mit anderen Eltern gegründet. Jemand, der so ein Projekt ins Leben rufen möchte, sollte auf jeden Fall drei bis vier Jahre einplanen. Die Intention unseres Vereins ist es, die Idee zu transportieren und andere Menschen dabei zu beraten, die ein solches Projekt umzusetzen möchten – sowohl Elterninitiativen als auch Vereine und Träger.
Was steckt hinter dem Konzept Ihres inklusiven Wohnprojektes?
Unser Konzept ist das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung auf Augenhöhe. Die Menschen ohne Behinderung sind in der Regel Studierende, die nach dem Prinzip “Wohnen für Hilfe” im Haus für ein paar Stunden arbeiten und dafür dort quasi mietfrei leben können. Es entsteht ein inklusives Miteinander.
In Städten wie Köln, in der es mit dem Wohnraum nicht immer einfach ist, hört sich das an wie eine Win-Win-Situation.
Genau. Und wir denken, dass so ein Projekt in allen Studierendenstädten funktioniert. Auch in Städten mit Berufsfachschulen könnte es gut klappen, weil auch Fachschüler*innen und Lehrlinge einer solchen Wohnform sicherlich gegenüber aufgeschlossen sind. Es ist übrigens nicht wichtig, aus welchen Fachbereichen die Mitbewohner*innen kommen, sie müssen kein heilpädagogisches Vorwissen haben.
Gibt es zusätzliche Unterstützung für die Bewohner/-innen?
Da im Sinne des vollständigen Inklusionsgedankens auch Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen bei uns wohnen, ist zusätzlich immer Fachpersonal vor Ort. Die Studierenden arbeiten im Regelfall im Tandem mit einer pädagogischen Fachkraft zusammen. Zudem gibt es eine Nachtwache im Haus.
Wie funktioniert das Miteinander?
Das läuft sehr gut. Es lässt sich mit dem Leben in einem Heim überhaupt nicht vergleichen, weder von den Räumlichkeiten, noch von der Atmosphäre.
Und für Sie als Eltern?
Meine Tochter lebt ja in einer der Wohngemeinschaften und es ist toll zu sehen, wie gut es ihr geht und wie glücklich sie ist. Wir denken, dass es vielen anderen Eltern genauso gehen könnte. Diese inklusive Wohnform ist zukunftsweisend und sollte viel mehr Menschen offen stehen. Ein solches Projekt ist auch nicht so kompliziert umzusetzen wie es sich vielleicht anfühlt.
Welche weiteren Formen inklusiver Wohnprojekte gibt es?
Es gibt bereits eine ganze Reihe verschiedener inklusiver Wohnformen in Deutschland. Unser Konzept integriert auch Menschen mit komplexen Behinderungen. Wir bieten aufgrund des hohen Hilfebedarfes im Haus eine ambulante 24-Stunden-Betreuung durch Fachkräfte an. Eine andere Form ist eine einzelne Wohngemeinschaft, die sich in einem gewöhnlichen Mehrfamilienhaus befindet. Einzelne WGs sind eher für Menschen mit leichteren Behinderungen geeignet. Und es gibt sogar Kleinst-Wohngemeinschaften, in denen nur zwei Menschen mit Behinderungen mit zwei Studierenden zusammenwohnen – eine Wohnform für Menschen, die sehr selbständig sind – und wo die Eltern im Krankheitsfall als Helfer einspringen.
Was braucht es, um ein solches Projekt umsetzen zu können?
Bei größeren Projekten ist das Nadelöhr oft das Grundstück und der Investor. Die schönste Projektidee macht keinen Sinn ohne Immobilie. Rund um die Immobilie gibt es viele Facetten, die man schon vor dem Projektstart im Blick haben sollte. Wichtig ist zum Beispiel, dass die Innenräume so gestaltet sind, dass das Miteinander funktioniert. Auch die Lage des Wohnprojektes ist sehr wichtig: öffentliche Verkehrsmittel, die Nähe zu einer Uni, Einkaufsmöglichkeiten zum Beispiel. Und man braucht das Engagement und den Willen, ein wirklich selbstverantwortetes Projekt umzusetzen, dass sich an den Bedürfnissen der Bewohner orientiert.
inklusiv wohnen Köln e.V.
Christiane Strohecker ist Initiatorin und Geschäftsführerin des inklusiv wohnen Köln e.V. – der Verein wurde 2013 als Elterninitiative gegründet. Ziel ist es, Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Das Haus, das der Verein mit der GAG Immobilien AG gebaut hat, hat eine Fläche von 1600 Quadratmetern und 31 Bewohner/-innen. Je neun Menschen mit und ohne Behinderung leben in einer inklusiven WG. Christiane Strohecker ist außerdem Dozentin bei der Paritätischen Akademie zum Thema „inklusives Wohnen“.
Bauen, umbauen oder mieten? Was bietet sich an?
Das erschließt sich meistens aus den zukünftigen Bewohner*innen. Wir haben zum Beispiel zwei Rollstuhlfahrerinnen in der Gruppe, dadurch kamen renovierte Altbauten nicht in Frage. Ein Umbau hätte mehr gekostet als ein Neubau. Auch für große WGs mit mehr als sechs Bewohner*innen ist es schwierig, etwas im Bestand zu finden. Deshalb sollte man überlegen: Wer soll dort zukünftig wohnen? Wir denken immer vom Menschen aus.
Braucht man ein pädagogisches Konzept?
Ja, und das haben wir natürlich auch. Im pädagogischen Konzept ist zum Beispiel festgelegt, wie die Arbeit mit dem Tandem funktioniert oder wie eine ambulante 24-Stunden-Betreuung aussieht. Es betrifft auch die individuellen Assistenz- und Fachleistungsstunden, die ja in den Hilfeplänen festgelegt sind, und das Miteinander. Wir möchten zum einen eine funktionierende inklusive Gemeinschaft haben – zum anderen aber auch eine individuelle Förderung gewährleisten und allen dort Wohnenden den nötigen individuellen Freiraum ermöglichen. Andere Konzepte betreffen die Projektentwicklung, die Ausstattung der Gemeinschaftsflächen oder die Finanzierung des laufenden Betriebes.
Gibt es denn auch Schwierigkeiten? Dinge, die nicht funktionieren?
Unser Haus liegt etwas außerhalb von Köln. Das ist für die Studierenden schon ziemlich weit weg, funktioniert aber gerade noch. Wenn die Wege zu weit sind, kann es dazu führen, dass die Studierenden umziehen, sobald sie eine besser gelegene Wohnung gefunden haben.
Generell haben viele Menschen Bedenken, ein solches Wohnprojekt zu starten, weil sie Sorge haben, dass es nicht finanziert wird. Es gibt aber ein Interesse auf Seiten der öffentlichen Hand, dass solche Projekte umgesetzt werden. Der Landschaftsverband Rheinland zum Beispiel fördert das inklusive Wohnen mit einer Eigenheimzulage. Es gibt außerdem viele Interessent*innen dafür. Wer als Träger ein solches Projekt umsetzt, wird voraussichtlich sehr viele Anmeldungen bekommen.
Artikelfoto: inklusiv wohnen Köln e.V.
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