Wenn Kinder rechtzeitig Frühe Hilfen bekommen, ist im Laufe ihres Lebens weniger Aufwand für Therapien und andere Maßnahmen nötig – seelisch, zeitlich und finanziell. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von Familienforscherin Uta Meier-Gräwe.
Frau Meier-Gräwe, was versteht man unter dem Begriff “Frühe Hilfen”?
Frühe Hilfen haben das Ziel, die Entwicklungsbedingungen von Kindern möglichst „von Anfang an“ und nachhaltig zu verbessern sowie allen Kindern ein gewaltfreies und gesundes Aufwachsen zu ermöglichen. Frühe Hilfen orientieren sich an den Bedarfen von Kindern, Eltern und Familien und sollen die Grundlage für die kommunale Sozial- und Jugendhilfeplanung bilden. Ein Leitsatz der Frühen Hilfen ist es auch, dass sie rechtzeitig und präventiv, bei Bedarf schon ab der Schwangerschaft einsetzen. Sie entlasten und stärken Eltern dabei, ihr Neugeborenes bzw. Kleinkind gut zu versorgen und zu erziehen. Es geht darum, Mutter und Vater stärkenorientiert bei der Wahrnehmung ihrer elterlichen Versorgungs- und Erziehungsverantwortung zu unterstützen. Damit heißt Prävention im Kontext der Frühen Hilfen auch, Entwicklungsrisiken für Kinder frühzeitig zu vermeiden und zu verhindern. Allerdings bleibt es wichtig, Unterstützung nicht auf die ersten drei Lebensjahre zu begrenzen, sondern Übergänge gut zu begleiten und Präventionsketten aufzubauen.

Gibt es einen “idealen” Ablaufplan Früher Hilfen, der im Regelfall erfolgreich ist?
Ideal ist es, wenn Fachkräfte bereits in der Schwangerschaft eine vertrauensvolle und wertschätzende Haltung der werdenden Mutter gegenüber einnehmen. Dadurch entwickelt sich schnell eine Vertrauensbasis, die das A und O für eine gute Begleitung der Eltern ist. Zu erwartende Probleme können frühzeitig angesprochen, angegangen und konkrete Unterstützung angeboten werden.
Bewährt haben sich insbesondere Programme mit Willkommensbesuchen von Ehrenamtlichen, wenn die Familie den Alltag mit dem Neugeborenen neu organisiert und bewältigen muss. Die Besucher*innen überreichen kleine Geschenke für das Neugeborene, informieren aber auch über bestehende Unterstützungs- und Hilfsangebote vor Ort. Wichtig: Dort, wo solche Willkommensbesuche durchgeführt werden, sollten sie allen jungen Familien angeboten werden, so dass eine Stigmatisierung von armen Familien bewusst vermieden wird.
Wie sind die Ergebnisse Ihrer Studie zu Frühen Hilfen methodisch entstanden? Wie lassen sich Zahlen entsprechend einordnen?
Wir haben diese Kosten-Nutzen-Analyse im Rahmen des Projekts „Guter Start ins Kinderleben“ durchgeführt. Da es in Deutschland bisher keine Längsschnittdaten wie zum Beispiel in den USA gab, haben wir uns für die Modellierung von plausiblen Szenarien entschieden: Wie werden sich die Kinder unter bestimmten Bedingungen entwickeln? Das ist eine in der Wissenschaft anerkannte Methode. Wir konnten zeigen, dass es 13-mal günstiger ist, Frühe Hilfen in den ersten drei Lebensjahren anzubieten als erst mit Eintritt ins Kindergartenalter auf bestimmte Entwicklungsprobleme (sprachlich, motorisch, psychisch usw.) zu reagieren. Wartet man noch länger und reagiert auf bestimmte Entwicklungsverzögerungen erst, nachdem diese bei den Schuleingangsuntersuchungen offensichtlich geworden sind, dann wird das im weiteren Lebensverlauf für die Gesellschaft sogar 34-mal teurer.
Gibt es konkrete Beispiele und Erfolgsgeschichten, dass die Forschungsergebnisse etwas bewirken konnten?
Das kann man zum Beispiel am Modellprojekt “Guter Start ins Kinderleben” sehen. Die Ausgaben des Jugendamtes für die Hilfen zur Erziehung (HzE) am Standort Ludwigshafen waren im Vergleich zu allen anderen Städten und Landkreisen in Rheinland-Pfalz nach wenigen Jahren deutlich geringer. Das liegt meines Erachtens nicht allein an der Sensibilisierung der Fachkräfte vor Ort, sondern daran, dass sich die Stadt dazu entschieden hat, nach Abschluss des Modellprojekts die Koordinierungsstelle mit entsprechenden Personalstellen fortzuführen. Dadurch konnten die im Projekt aufgebauten guten Kooperationsbeziehungen zwischen verschiedenen Einrichtungen und kommunalen Akteuren im Interesse von Kindern und ihren Eltern verstetigt werden.
Zudem ist es wichtig, diese Ergebnisse nicht nur auf Fachkongressen zu diskutieren, sondern auch mit den Haushälter*innen und Finanzbeamt*innen einer Kommune.
Zur Person
Uta Meier-Gräwe ist emeritierte Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Wie kann man Rückschlüsse auf die Lebenssituation eines Erwachsenen ziehen, der keine Frühen Hilfen bekommen hat im Vergleich zu jemandem, der davon profitiert hat?
Dazu gibt es aus anderen Ländern sehr beeindruckende Forschungsergebnisse. So hat James Heckman, Nobelpreisträger für Ökonomie, für die USA anhand von Längsschnittstudien nachweisen können, dass jeder Dollar, der in umfängliche und vernetzte Hilfen für die frühkindlichen Bildung (1. bis 3. Lebensjahr) von Kindern aus armen afroamerikanischen Familien investiert wurde, im weiteren Lebensverlauf dieser Kinder zu einem Output von 16 Dollar geführt hat: Diese Kinder entwickelten sich in der Regel unauffällig bis gut, so dass sie einen Beruf erlernt haben und erwerbstätig waren, Steuern und Sozialabgaben gezahlt und eine Familie gegründet haben. Zudem sind viel geringere Kosten im Gesundheits- und Justizhaushalt entstanden als bei den Kindern, die keine entsprechende Förderung erhalten hatten.
Warum, glauben Sie, denken Menschen weniger präventiv, sondern reagieren erst, wenn offensichtliche Probleme zu Tage treten?
Das trifft ja keineswegs nur auf Eltern in finanziell schwierigen Lebenslagen zu. Vorausschauendes Handeln ist auch bei politischen Entscheidungsträgern meist nicht sonderlich ausgeprägt – zumal dann nicht, wenn es Geld kostet. Ich nenne das pathologisches Lernen. Diesbezüglich offenbart ja auch die derzeitige Corona-Pandemie, dass Prävention viel ernster genommen und in Zukunft strukturell weit besser verankert werden muss.
Welche Kontaktpunkte gibt es, um von Angeboten der Frühen Hilfen zu erfahren?
Es können Frauen- und Kinderärzt*innen, Hebammen, Jugend- und Bürgerämter und ganz besonders Familienzentren und Familienbildungseinrichtungen sein. Auch örtliche Medien oder Orte, wo Familien einkaufen, eignen sich, um auf diese Angebote aufmerksam zu machen.
Gibt es genügend Angebote für die Menschen vor Ort?
Das glaube ich nicht. Mit dem Nationalen Zentrum Früher Hilfen ist zwar eine wichtige Institution geschaffen worden, die wirklich viel auf den Weg gebracht hat. Und es gibt eine Vielzahl von Städten und Gemeinden, die sich sehr um dieses Thema kümmern. Aber gerade, wenn es um eine angemessene Personalbemessung und Bezahlung dieser wichtigen Felder der Sozialen Arbeit und der Gesundheitsprävention geht, besteht nach wie vor ein großer Handlungsbedarf. Denken wir zum Beispiel nur an die nach wie vor grottenschlechten Arbeitsbedingungen von Hebammen und Krankenpfleger*innen in Privatkliniken – hohe Verantwortung und Stress bei gleichzeitig schlechter Entlohnung.
Wie gelingt es, den Überblick zu behalten, welche Bedarfe einzelne Personen haben und wie sie das Angebot wahrnehmen?
Ganz entscheidend ist es, ein gutes Gesundheitsmonitoring aufzubauen und ressort- und rechtskreisübergreifend zu arbeiten. Nur dann können Bedarfe, die sich auch sehr dynamisch entwickeln und verändern können, rechtzeitig erkannt und bearbeitet werden, bevor Überforderungen entstehen. Denn Kindeswohlgefährdung und Vernachlässigung sind in den allermeisten Fällen Endpunkte einer so von den Eltern keineswegs gewollten, verhängnisvollen Entwicklung, an deren Anfang unterschiedlichste Formen von Überforderung mit ihrer Lebenssituation stehen.
Artikelfoto: Fotolia/Robert Kneschke
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