Lars Mechler und Monika Müllejans arbeiten in der Gewaltprävention für den Dortmunder Verein Wellenbrecher e.V. – in Seminaren und Trainings helfen Sie pädagogischen Fachkräften, aber auch Kindern und Jugendlichen, mit Gewalt umzugehen.
Herr Mechler, Frau Müllejans – wie entsteht Gewalt bei Kindern und Jugendlichen eigentlich?
Mechler: Es gibt viele Risikofaktoren durch die Gewalt entstehen kann. Das können sozio-biografische Faktoren wie Gewalterlebnisse in der Familie oder ein gewalt-bejahender Erziehungsstil sein. Dann gibt es sozio-ökonomische Faktoren wie prekäre Lebensverhältnisse, sehr beengte Wohnverhältnisse oder eine unsichere Lebensperspektive. Diese Faktoren können dazu führen, dass ein Mensch eine gewalttätige Strategie für sich wählt, um mit seinen Lebensumständen besser umgehen zu können, müssen es aber nicht.
Hinzu kommen Faktoren, die aus der Situation heraus entstehen – zum Beispiel Emotionen, unerfüllte Bedürfnisse oder unterschiedliche Wahrnehmung von Situationen. Keiner dieser einzelnen Faktoren wird alleine dafür ausschlaggebend sein, dass ein Mensch aggressiv ist. Aber wenn viele davon zusammenkommen, entsteht ein erhöhtes Risiko.
Kann man das mit den medizinischen Begriffen chronisch und akut vergleichen?
Mechler: Es gibt einen Unterschied ob ein Mensch grundsätzlich zu Gewalt neigt oder ob er in einer akuten Situation Gewalt ausübt. Hat ein Mensch diese Affinität, ist die Möglichkeit wiederum größer, dass er auch in akuten Umständen gewalttätig wird. Gleichzeitig gibt es Menschen, die eigentlich friedfertig sind, aber in Situationen einer wahrgenommenen Bedrohung für sich selbst auch zu Gewalt greifen würden.
Wie verbreitet ist Gewalt unter Kindern und Jugendlichen? Hat sich da in den vergangenen Jahren etwas verändert?
Mechler: Dazu gibt es viele Studien. Entscheidend ist, wie Gewalt definiert wird. Wenn ich Anschreien oder Beleidigen schon dazu zähle, haben wir natürlich eine extrem hohe Fallzahl. Belastbare Zahlen liefern am ehesten die Unfallstatistiken der Gemeinde-Unfallversicherungen. Sie beziffern die Rauf- und Tobeunfälle an Schulen und beinhalten aggressive Übergriffe von Schüler*innen. Tendenziell sind diese Zahlen seit vielen Jahren leicht rückläufig. Zudem ist aufgefallen, dass eine geringe Zahl an Kindern und Jugendlichen für eine hohe Zahl dieser Vorfälle verantwortlich ist.
Welche krassen Fälle von Gewalt sind Ihnen aus pädagogischen Einrichtungen bekannt?
Müllejans: Die mir bekannten Fälle lagen im Schulbetrieb. Ich habe so etwas jedoch relativ selten erlebt. Die heftigsten Fälle waren körperliche Angriffe auf Lehrer*innen oder anderes Fachpersonal, die körperliche und oder seelische Folgen für die angegriffenen Personen hatten. Unter den Schüler*innen gab es teilweise schwere Körperverletzungen. Wir mussten dann nicht nur diese einzelnen Täter*innen auffangen, sondern ein ganzes System. Daran sieht man, wie umfangreich Ursachen und Folgen solcher Taten sind.
Wie kann ein*e Lehrer*in reagieren?
Mechler: Er oder sie muss zunächst akut unterscheiden, ob sich die*der Täter*Täterin in einer emotionalen Anspannungssituation befindet. In dem Fall wäre deeskalierendes, beruhigendes Verhalten anzuraten. Will ein Schüler oder eine Schülerin jedoch Macht ausüben und manipulierend wirken, dann wäre eher anzuraten, dieses Verhalten einzugrenzen, wobei jedem klar sein muss, dass der Selbstschutz der Mitarbeitenden höhere Priorität hat als das der Schüler*innen. Im Rahmen einer Notwehrsituation dürfte sich zum Beispiel ein Lehrer auch mit körperlichem Einsatz gegen einen unmittelbaren Angriff schützen. Die akute Gefahr müssen aber die Fachkräfte selbst einschätzen.
Ziel ist es, Gewalt kontrollierbarer zu machen und die individuelle Notwendigkeit zum aggressiven Handeln soweit wie möglich einzuschränken.“
Lars Mechler
Kann Gewaltprävention Angriffe auf einen Lehrer oder eine Lehrerin verhindern?
Mechler: Die Gewaltprävention wird in mehrere Phasen eingeteilt. Man spricht von Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Ein Teilaspekt ganzheitlicher Gewaltprävention ist es natürlich, akute Angriffe zu deeskalieren. Man muss aber auch im Blick haben, mit welchem Bedürfnishintergrund und in welchem Kontext der Angriff stattfindet. Hat sich die*der Schüler*in vielleicht selbst attackiert gefühlt oder ist die*der Lehrer*in einfach zur falschen Zeit am falschen Ort? Wichtig ist, dass effektive Prävention nur funktioniert, wenn sie das Ergebnis eines Systems verschiedener, ineinandergreifender und aufeinander abgestimmter Module ist.
Wie konkret kann man gewalttätigen Schülerinnen und Schülern schon vorab helfen? Gibt es eine Art Rezept?
Mechler: Es gibt verschiedene Ansätze. In der Primärprävention ist es so, dass wir Gewalt an sich altersgerecht thematisieren. Dadurch bleibt sie kein Tabuthema, sondern es wird über ihre Entstehung und den Umgang damit gesprochen, damit Kinder sich darauf vorbereiten können. In der Sekundärprävention wird eine Risikogruppe definiert, die Auffälligkeiten andeuten. Für diese Kinder gibt es unterschiedliche Programme, unter anderem das Coolness-Training. Dort bekommen sie konkretes Material, wie sie in bestimmten Situationen mit Aggressionen umgehen können. In der Tertiärprävention geht es unter anderem darum, Täterinnen und Täter in ihrer moralischen Kälte zu erreichen, sie in ihren Rechtfertigungsstrategien zu erschüttern und ihnen klarzumachen, dass sie anderen Menschen Leid zufügen. Auch hier ist es wichtig ihnen dabei zu helfen alternative Handlungsmuster zu entwickeln und diese so zu trainieren, dass sie diese im Alltag auch abrufen können.
Wie erfolgreich sind solche Programme?
Müllejans: Es kommt auf den Kontext an. Im präventiven Bereich kann man in Sicherheit trainieren und man erkennt, dass sich die Verhaltensweisen motivierter Trainingsteilnehmer*innen nach dem Grundtraining ändern. Da macht es keinen Unterschied, ob wir mit Kindern und Jugendlichen oder mit Fachpersonal arbeiten. Der Erfolg eines Anti-Aggressionstrainings ist sehr speziell und abhängig von der Bereitschaft derjenigen, die vor uns sitzen. In unserem Einzelcoaching gibt es ebenfalls Erfolge zu verzeichnen. Sie sind sehr individuell an die Klient*innen ausgerichtet. Je individueller, desto erfolgreicher sind die Coachings. Dabei ist wichtig, dass das Umfeld auch bereit ist, die Kinder und Jugendlichen zu unterstützen.
Mechler: Es ist natürlich auch nicht leicht den Erfolg zu messen. Diese Kinder und Jugendlichen kommen oft aus einem sehr gewaltbereiten Umfeld. Man muss realistisch sein: Jemand mit einer langen und ausgeprägten Gewaltbiografie hat durch das Training eine Chance, weniger gewalttätig zu sein. Gewalt komplett zu vermeiden wird aber vermutlich nicht klappen. Ziel ist es dann, Gewalt kontrollierbarer zu machen und die individuelle Notwendigkeit zum aggressiven Handeln soweit wie möglich einzuschränken.
Inwiefern helfen die Trainings den Fachkräften in den pädagogischen Einrichtungen?
Müllejans: Wenn man es schafft, seine Perspektive zu verändern und die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen anders bewertet, kann man sich selber schützen. Die Trainings vermitteln Sicherheit und Stabilität im Umgang mit sehr bedrohlichen Situationen, aber auch solchen in einer Grauzone. Hier können Trainings dabei helfen klarer aufzutreten, sich zu behaupten und dadurch sich und andere zu schützen.
Wie geht man vor wenn Kinder immer wieder durch Gewalttätigkeit auffallen? Müssen diese Kinder aus der Gruppe genommen werden?
Mechler: Zunächst muss man diskutieren ob die Gefährdung so groß ist, dass ein Verbleib nicht mehr händelbar oder begründbar ist. Dabei geht es neben dem körperlichen und seelischen Wohlergehen aller Beteiligten bzw. Betroffenen auch um die strukturelle Belastbarkeit von Gruppensystemen. Dann wäre ein temporärer Ausschluss nötig. Man muss in dem Fall schauen, was für die Gruppe wichtig ist, und die individuellen Hintergründe der Täter*innen berücksichtigen, gerade wenn diese Kinder und Jugendlichen selber massiv belastet sind. Ich brauche für den Fall, dass man die herausfordernden Kinder und Jugendlichen im System belässt, aber auch einen klaren Rahmen in Bezug auf Grenzen und Regeln, damit es nicht zu Nachahmungstaten in der Gruppe kommt.
Zur Person
Lars Mechler und Monika Müllejans arbeiten seit mehreren Jahren beim Dortmunder Jugendhilfeträger Wellenbrecher e.V. im Bereich Gewaltprävention mit Kindern und Jugendlichen. Der Fachbereichsleiter für Prävention, Training und Beratung Lars Mechler ist Diplom-Sportwissenschaftler, Anti-Gewalt-Trainer und Systemischer Berater. Monika Müllejans ist Diplom-Sozialarbeiterin,Traumapädagogin und Anti-Gewalt-Trainerin. Gemeinsam geben sie bei der Paritätischen Akademie NRW den Kurs “Trainerin und Trainer für pädagogische Gewaltprävention”.
Artikelfoto: (c) pololia_Fotolia
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